MILDIPA

 

 

Multi-level democracy and inter-parliamentary cooperation: Progressing towards cross-level parliamentarism” (MILDIPA)

 

Jean-Monnet Chair for Political Science and European integration studies, Prof. Dr. Andreas Maurer

 

Mildipa.pdf
Adobe Acrobat Dokument 165.5 KB

 

 

Problemaufriss – Ausgangsbeobachtungen

 

 

(1)   Die EU-Verträge postulieren, dass die Arbeitsweise der Union auf der repräsentativen Demokratie beruht, die Bürgerinnen und Bürger auf Unionsebene unmittelbar im Europäischen Parlament vertreten werden, die nationalen Parlamente aktiv zur guten Arbeitsweise der Union beitragen und die Regierungen der Mitgliedstaaten gegen­über ihrem nationalen Parlament oder gegenüber ihren Bürgerinnen und Bürgern Rechenschaft ablegen müssen. Zur Zusammenarbeit der Parlamente weist Artikel 9 des Protokolls über die Rolle der nationalen Parlamente in der EU ergänzend darauf hin, dass „das Europäische Parlament und die nationalen Parlamente […] gemeinsam fest[legen], wie eine effi­ziente und regelmässige Zusammenarbeit zwischen den Parlamenten innerhalb der Union gestaltet und gefördert werden kann.“

(2)   Der europäische Integrationsprozess wird seit der Rati­fi­zie­rung des Maastrich­ter Vertrages regelmäßig unter dem Stichwort des Demokratiedefi­zits als undemokratisch, entparlamentarisiert, intransparent, bürgerfern, kompliziert und ineffizient kritisiert. Dreh- und Angelpunkt dieser EU-Kritik ist dabei die Einschätzung, dass innerhalb der EU durch das Setzen allgemein verbindlicher Entscheidungen, die unmittelbar in die Gestaltungsfreiheit der BürgerInnen eingreifen, öffentliche Herrschaft ausgeübt wird, die nicht den gewohnten Maßstäben demokratischen Regierens entspricht. Insbesondere die Gestaltungs- und politischen Eingriffsoptionen der handlungs- und entscheidungsberechtigten Akteure auf EU-Ebene gelten in diesem Zusammenhang als nicht oder nur unzureichend demokratisch legitimiert.

(3)   Die EU stellt eine Zusammenfassung parlamentarisch-rechtstaatlicher Demokratien dar. Grundpfeiler für die Einigung Europas unter dem Dach der EU ist die Sicherstellung einer friedlichen Zusammenarbeit zwischen demokratischen Staaten, die ihrerseits dem Organisationsprinzip repräsentativer Demokratie verpflichtet und dementsprechend strukturiert sind. Zu erwarten wäre daher, dass die EU schon aufgrund der demokratischen Grundprinzipien der sie konstituierenden Staaten auch selbst über eine demokratische Grundordnung verfügt. Tatsächlich unterstreicht die Präambel des EU-Vertrags den Wunsch aller am hierdurch begründeten Herrschaftssystem Beteiligten, die „Demokratie und Effizienz in der Arbeit der Organe weiter zu stärken.“ Ausgangspunkt des Vertrags selbst ist somit indirekt die Feststellung eines bestimmten Aggregatzustandes der Demokratie in der EU – Demokratie und Effizienz sind weiter zu entwickeln –; postuliert wird daher ein nicht genauer definiertes Maß demokratischen Regierens. Dieses wird mit Blick auf die Organe der EU als ausbaufähig und damit als Teil eines Prozesses erkannt.


In dieser Perspektive wurde auch der Lissabonner Vertrag – ähnlich wie die vorangegangenen Verträge und Reformen – nicht als endgültig, sondern als Stufe oder Etappe eines Weges begriffen, dessen demokratische Finalität (noch) nicht erreicht ist. Der in der Präambel des Unionsvertrags manifestierte Wunsch nach einer demokratischeren und effizienteren Ausge­staltung der EU ermöglicht es den integrationspolitisch unmittelbar (Regierungen, Abgeordnete des Europäischen Parlaments) und mittelbar (Abgeordnete der nationalen Parlamente, Nichtregierungsorganisationen, Medien) involvierten Akteuren, die EU-Verträge als Elemente verschiedener europa- und integrationspolitischer Deutungskonzepte und Strategien zu akzeptieren und zu nutzen, weil die Organe und ihre Verfahren nicht in einer hierarchischen, beispielsweise ihre machtpolitische Bedeutung unterstreichenden Anordnung aufgeführt werden. Die Vertragspräambel weist aber auch darauf hin, dass die in­stitutionellen und verfahrensmä­ßigen Grundlagen der EU nicht auf alle Zeiten festge­legt sind, sondern entwicklungsbedürftig – und somit ‚Leitbild-­unter­worfen’ – bleiben wer­den.

 

(4)   In den letzten 25 Jahren haben sich Macht und Verantwortung des Europäischen Parlaments (EP) schrittweise ausgedehnt. Und spätestens mit dem Maastrichter Vertrag von 1993 haben die entscheidungsmächtigen Akteure der EU einen bis dahin ausgeblendeten Entwicklungspfad beschritten, der Kontroll-, Informations- und weitergehenden Mitwirkungsrechte der nationalen Parlamente gegenüber den Regierungen der Mitgliedstaaten, der Kommission und dem Europäischen Rat normiert. Vertragsreformen wie die Einheitliche Europäische Akte von 1987, der Maastrichter, der Amsterdamer und zuletzt der Lissabonner Vertrag haben auf beiden Parlamentsebenen ihre Spuren hinterlassen. Trotz dieser Reformschritte werden aber Defizite in der parlamentarisch-demokratischen Struktur der EU, der Transparenz ihres Willensbildungs- und Entscheidungssystems einschliesslich der hierauf Bezug nehmenden Regeln und Instrumente sowie eine Kluft zwischen den Herrschaftsausübenden und den Herrschaftsbetroffenen festgestellt.

(5)   Der über Verträge grundnormierte Integrationsprozess ist dadurch gekennzeichnet, dass originäre Befugnisse der nationalen Parlamente auf die europäische Politikgestaltungsebene verlagert werden, die nicht vollständig und unmittelbar dem EP, sondern in der Regel zuerst der Regelungsgewalt des Ministerrats oder des Europäischen Rates zugeordnet werden. Dieses Reformschema der zyklischen, über Vertragsreformen rechtlich sanktionierten Allokation von Politikgestaltungsmöglichkeiten zugunsten des Ministerrats und Europäischen Rates, zu Lasten der nationalen Parlamente und tendenziell immer erst in einem zweiten, dem Kompetenztransfer zeitlich nachgeordneten Schritt zugunsten des EP haben die Staats- und Regierungschefs seit Gründung der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl 1952 (EGKS) kontinuierlich fortgeschrieben. Die daraus resultierende, im Vergleich zum Ministerrat und zum Europäischen Rat asymmetrische Stellung des EP und der sich aufgrund der Kompetenztransfers verringernde, direkte Einfluss der nationalen Parlamente im Hinblick auf ihre Gestaltungsspielräume in der Setzung allgemein verbindlicher Regeln begründen ein doppeltes Defizit an parlamentarischer Mitwirkung und Kontrolle. Doppelt, weil den nationalen Parlamenten gesetzgeberische – und im Zuge der jüngsten Reformen im Bereich der Wirtschafts- und Währungsunion auch massiv budgetäre Handlungsoptionen –verloren gehen, die vom EP nicht unmittelbar aufgefangen werden und der Europäische Rat, der Ministerrat und die Kommission folglich in die Lebensverhältnisse der Bürgerinnen und Bürger der Union eingreifen können, ohne einer sanktionsmächtigen Kontrolle durch ein aufgrund von Wahlen direkt legitimiertes Organ zu unterliegen.


Den europäischen Einigungsprozess kennzeichnet so ein strukturelles Demokratiepro­blem: Internationale Verhandlungen setzen die Handlungsfähigkeit und -freiheit derjenigen Akteure voraus, die im nationalen Zusammenhang zur Übertragung von Hoheitsrechten und deren Vollzug befugt sind; in den Staaten der EU sind dies aus demokratischen Wahlen hervorgehende Regierungen. Folglich verfügen nationale Parlamente in der auswärtigen Politik nicht über die gleichen Gestaltungsmöglichkeiten wie im Rahmen innenpolitischer Entscheidungszyklen. Das hieraus erwach­sende, parlamentarische Demokratiedefizit auswärtiger Politik und die in der Regel eher komplexen Re­präsentations- und Verantwortungsketten von den Bürgerinnen und Bürgern zum international verhandelnden Regierungsakteur kennzeichnen alle internationalen Organi­sationen. Für den ‚Sonderfall’ der EU ist aber unbestritten, dass die spezifische Organisationsform eines mehrstufig gegliederten Verhandlungssystems sowie die geltenden Rechtsprinzipien der unmittel­baren Anwendbarkeit und des Vorrangs europäischen Rechts vor nationalem Recht weit über den Handlungsrahmen klassischer, internationaler Organisationen hinausgehen. Als Folge des Integrationsprozesses hat somit auch die Trennschärfe zwischen aussenpoliti­schen und innenpolitischen Handlungsinstrumenten und den hierauf anwendbaren Re­geln der demokratischen Rückbindung von Repräsentanten an die von ihnen repräsen­tierten Bürgerinnen und Bürgern erheblich abgenommen. Europapolitik wird spätestens seit der Ingangset­zung des Binnenmarktprogramms 1985/1987 und der in dessen Folge erreichten Inte­grationstiefe in immer mehr Bereichen des öffentlichen Lebens als staats- und innenpo­litikanaloges Handeln wahrgenommen. Weil ihre funktionale Reichweite umfassender an­gelegt ist und das in ihrem Rahmen erlassene Entscheidungsoutput unmittelbarer in die Gestaltungsfreiräume der Bürgerinnen und Bürgern eingreift, trifft das Demokratiedefizit die EU und ihre Mitgliedstaaten stärker als internationale Organisationen wie die Vereinten Nationen oder die NATO.


Mehrere Entwicklungen haben dieses Demokratieproblem seit dem Maastrichter Vertrag verstärkt:

 

  • Erstens führt die seit 1987 sukzessiv verfolgte Ausdehnung des Anwendungsbereichs für qualifizierte Mehrheitsentscheidungen im Ministerrat zu einem Verlust an unmittelbarer Kontrolle des Regierungshandelns auf Seiten der nationalen Parlamente: Bei Entscheidungen mit qualifizierter Mehrheit entfällt die – zumin­dest konzeptionell gegebene – politische Verantwortlichkeit gegenüber parlamentarischen Gremien, wenn sie nicht durch eine über das Informationsrecht hinausgehende Beteili­gung des EP oder aber durch spezielle Kontroll- und Mandatsinstrumente für die nationalen Parlamente kompensiert wird.
  • Zweitens verstärken die seit 1997 praktizierten und im Zuge der jüngsten Banken-, Finanz- und Wirtschaftskrise ausgeweiteten Verfahren der offenen Koordinierung in der Beschäftigungs-, Fiskal- und Wirtschaftspolitik das Mitwirkungsproblem der Parlamente in der ex-ante-Kontrolle des Ministerrates. Denn ähnlich wie in der GASP und ESVP werden auch in diesen Bereichen sowohl das EP als auch die nationalen Parlamente weitestgehend aus den zyklischen Prozessen der zwischenstaatlichen Koordinierung herausgehalten. Ein zusätzliches Demokratieproblem ergibt sich in diesem Zusammenhang aus den Entscheidungsrechten des Europäischen Rates: Denn faktisch übernehmen die Staats- und Regierungschefs die Entscheidungsrechte des Ministerrats, bleiben aber der interinstitutionellen Machtbalance im Verfahren der Gesetzgebung enthoben und sind insofern auch nicht unmittelbarer Legislativpartner des EP. Es ist jedenfalls nur schwer vorstellbar, dass der Europäische Rat im Vermittlungsausschuss des ordentlichen Gesetzgebungsverfahrens auf Augenhöhe mit dem EP verhandeln könnte. Scheidet der Europäische Rat als Legislativpartner des EP aus, wäre nach seinen Rückkopplungsmechanismen gegenüber den nationalen Legislativen zu fragen. Aber auch auf dieser Ebene ist angesichts der Erfahrungen im Rahmen der offenen Koordinierungspolitiken fraglich, auf welche Weise eine ex-ante-Kontrolle der Parlamente gegenüber den Staats- und Regierungschefs hergestellt werden kann.
  • Drittens entzieht sich der durch den Lissabonner Vertrag als Organ aufgewertete und mit zahlreichen Exekutiv- und Initiativfunktionen ausgestattete Europäische Rat als über dem Ministerrat stehendes Gremium der Staats- und Regierungschefs fast vollständig einer parlamentarischen Kontrolle. Berichtspflichten gegenüber dem EP und nationalstaatlich praktizierte Erklärungsroutinen der Regierungschefs gegenüber ihren nationalen Parlamenten dienen zwar der öffentlichkeitswirksamen Darstellung der Aktualität europäischer Politik und der dramaturgisch aufgesetzten Rekonstruktion politischer Krisen und ihrer Bewältigung auf ‚höchster Ebene’. Eine parlamentarische Rückbindung der Beratungen des Europäischen Rates findet damit jedoch nicht statt.
  • Viertens ist für das seit Maastricht erheblich ausgebaute Netzwerk der dem Ministerrat unterstellten Ausschüsse im Bereich der Wirtschafts- und Währungsunion (Wirtschafts- und Finanzausschuss, Art. 134 AEUV), der Beschäftigungspolitik (Beschäftigungsausschuss, Art. 150 AEUV), der Sozialpolitik (Ausschuss für Sozialschutz, Art. 160 AEUV), der Handelspolitik (Art. 207 AEUV) der Innen- und Justizpolitik (Art. 71 AEUV) sowie der Aussen- und Sicherheitspolitik (Politisches und Sicherheitspolitisches Komitee) keine parlamentarische Kontroll- geschweige denn Mitwirkungskomponente vorgesehen. Zwar dienen diese im AEUV normierten Gremien der effizienteren Problembewältigung und in diesem Rahmen der Vorbereitung politikfeldspezifischer Ministerratsentscheidungen. Ihre ‚Auskopplung’ aus dem parlamentarischen Rückbindungsgefüge zeigt aber, das sich die Staats- und Regierungschefs der demokratisch-parlamentarischen Kontrolle ihres Kollektivorgans Ministerrat und dessen Vorbereitungsgremien entziehen. Handlungsmuster der Deliberation und Entscheidungsvorbereitung in geschlossenen Gremien hochrangiger Beamter, die zwar den Ministern und damit den Regierungen, nicht aber gegenüber den Parlamenten rechenschaftspflichtig sind, treten so in offene Konkurrenz gegenüber der weitgehend öffentlichen Politikgestaltung durch Parlamente
  • Hiermit ist die fünfte, das Demokratieproblem verstärkende Komponente angesprochen: Wenn Regierungen parlamentsschwache Verhandlungs- und Entscheidungsgremien ohne grössere Widerstände in der Bevölkerung einrichten können, dann offensichtlich deshalb, weil das Interesse der BürgerInnen eher am substanziellen Erfolg (‚Output’) als am Verfahren (‚Input’) europäischer Politik orientiert ist. Konkret: Der Mehrwert parlamentarischer Aggregation, Repräsentation und Vermittlung von Interessen, Wünschen, Befürchtungen und Ideen steht selbst unter zunehmendem Beweiszwang.
  •   Schliesslich stellt sich die Frage nach dem demokratisch-parlamentarischen Gehalt europäischer Zusammenarbeit seit Beginn der Schengener Vertragszusammenarbeit im Hinblick auf unterschiedliche Formen und Prozesse der flexiblen oder abgestuften Integration. In immer mehr Politikfeldern und in verschiedenen „Grossregionen“ Europas verfolgen Staaten in Gruppenzusammenhängen – teils jenseits des EU-Vertrags- und Institutionengefüges – ihre politischen Prioritäten. Auch im Lissabonner Vertrag manifestieren sich erneut politikbereichsspezifische Ausnahmeregeln für einige Staaten (Großbritannien im Bereich der polizeilichen und strafrechtlichen Zusammenarbeit sowie – im Verbund mit Polen und Tschechien – im Hinblick auf Geltungsbereich und Durchsetzungsmodus der Grundrechtecharta) sowie - teilweise als Reaktion hierauf – neue Regeln zum Eintritt in Formen der verstärkten Zusammenarbeit unter dem Dach der EU. Diese neuen „Opt-Outs“ und die damit einhergehenden Kooperationsformen einer Gruppe von Staaten werfen die Frage nach dem inneren Zusammenhalt der Union auf. Wie und wer soll die Chancen und Risiken mitgliedstaatlicher Clusterbildung unter der Maßgabe der Prinzipien der Unionstreue und der integrationspolitischen Homogenität kontrollieren und legitimieren? Kontroversen über die umfassende Gesamtstrategie der Europa- und Integrationspolitik werden durch die neuen Differenzierungsregeln des Lissabonner Vertrages also nicht beendet, sondern intensiviert und – zuletzt im Bereich der Wirtschafts- und Fiskalpolitik – durch spezifische Formen der "Ausgründung" europäischer Entscheidungsprozesse in den Fiskalpakt und den Europäischen Stabilisierungsmechanismus dynamisiert. Zudem mehren sich bereichsspezifische Impulsgruppen mit teils überlappender, teils kompetitiver Teilnehmerschaft. „Mehrheitskerne“ unterliegen zwar formal einem parlamentarischen Kontroll- und Zustimmungsvorbehalt. Allerdings verpflichten kein Vertrag und keine mitgliedstaatliche Verfassung die Regierungen dazu, die Parlamente im Verhandlungsprozess der Kerngruppen zu konsultieren. Gruppenbildungen bergen somit Unwägbarkeiten hinsichtlich der demokratischen Legitimation der Unionspolitiken sowie der Rechte, Pflichten und Funktionen des Europäischen Parlaments und der nationalen Parlamente. Denn asymmetrische Einfluss- und Handlungsstrukturen bei faktisch ausfransender EU-Mitgliedschaft schwächen die Transparenz von Entscheidungen und unterminieren die (supra)nationalen Kontrollinstrumente und -Institutionen der EU. Alle informellen bzw. den EU-Regeln formal enthobenen Gruppeninitiativen induzieren daher eine „Entparlamentarisierung“ von Verhandlungen und Entscheidungen. Dies gilt erstens für das Europäische Parlament, auch wenn die Europaabgeordneten über den Hebel ihres Haushalts-, Anhörungs- und Selbstbefassungsrechts die politische Verantwortung der exekutiven Entscheidungsträger immer wieder lautstark einfordern können. Das parlamentarische Kontroll- und institutionell-verfahrensmässige Legitimationsdefizit wird dadurch verstärkt, dass die nationalen Parlamente nur an der Ratifikation entsprechender Verträge ex-post beteiligt werden, im Aufbau und in der Durchführung der Gruppenprozesse aber aussen vor bleiben.

 


Fragestellungen des Projekts

Ausgehend von den oben dargelegten Problemstellungen beabsichtigt MILDIPA, Studierende der BA-, MA- und PhD-Studiengänge an Fragestellungen der demokratisch-parlamentarischen Rückbindung des europäischen Integrationsprojekts heranzuführen und diese in zwei Dimensionen eingehender zu analysieren:

(1)   Ebenendimension: Parlamente lassen sich aus dem Zusammenhang des konkreten Regierungssystems heraus verstehen, in das sie einbezogen sind. Hierdurch sind ihre Kompetenzen, Funktionen, Arbeitsweisen sowie weitgehend die Verhaltensweisen ihrer Mitglieder bestimmt. Parlamente agieren in diesem Sinne auf subnationaler, nationaler, europäischer und globaler Ebene in erster Linie ebenenspezifisch: Ihre Konstitution (Wahl, Zusammensetzung) und Funktionen leiten sich aus den unmittelbaren Aktionskontexten ab. Regionale Parlamente (inter)agieren auf der subnationalen, nationale Parlamente auf der nationalen, das Europäische Parlament auf der europäischen, die parlamentarische Konferenz der WTO auf der globalen Ebene. Nationale Parlamente, subnationale Parlamente und Europäisches Parlament wirken auf unterschiedliche und sich im Verlauf des Integrationsprozesses verändernde Weise an der Fortbildung der Eu­ropäischen Union und der effektiven Nutzung der vertraglich gesetzten Gestaltungs­möglichkeiten mit. Die Akteursebenen haben Berührungs- und Überschneidungs­punkte, die in einzelnen Fällen zu Konflikten führen können, andererseits aber auch die Legitimation der Union verstärken helfen.

 

In den Vorlesungen und Seminaren werden somit systematisch die Strukturen und Handlungslogiken der verschiedenen Handlungsebenen sowie die Überlagerungen und Wechselwirkungen an den Schnittstellen der Ebenen – subnational-national-europäisch-global – im Hinblick auf die Herausarbeitung der Kennzeichen und Wirkmuster von Mehrebenensystemen vorgestellt, hinterfragt und politikbereichsspezifisch diskutiert.

 

(2)   Funktionsdimension: Unter Funktionen verstehen wir grundlegende Aufgabenstellungen von Parlamenten für das Bestehen und den Erhalt des politischen Systems, in dem sie wirken.Parlamentsfunktionen sind Mechanismen und Verhaltensweisen, mit deren Hilfe und durch die Parlamente die Grundfunktionen der Repräsentation in der Demokratie erfüllen. Aufgrund der spezifischen Rahmenbedingungen des EU-Systems kann das von Walter Bagehot für nationale Parlamente in Westminster-Demokratien konzipierte Funktionsraster nicht ohne Modifikationen auf die Parlamente im EU-System übertragen werden. Grundvoraussetzung für ein auf das Europäische Parlament und die nationalen (subnationalen) Parlamente zugeschnittenes Funktionenraster ist daher die Berücksichtigung der spezifischen, politischen und rechtlichen Rahmenbedingungen im EU-System. Als bewährtes Analyseraster zur politikwissenschaftlichen Funktionsanalyse des Europäischen Parlaments und der nationalen Parlamente greifen wir auf das vom Lehrstuhlinhaber entwickelte und empirisch unterfütterte (Maurer 2002, Maurer 2012, Maurer/Wessels 2001) Funktionenraster zurück.

 

In den Vorlesungen und Seminaren werden somit systematisch die Politikgestaltungs-, Wahl/Rekrutierungs-, Kontroll-, Interaktions/Kommunikations- und Systemgestaltungsfunktionen der Parlamente innerhalb und zwischen ihren jeweiligen Aktionsebenen vorgestellt, diskutiert und fallbezogen analysiert.

 

 MILDIPA diskutiert die dem EP und den nationalen Parlamenten angebotenen Handlungsoptionen zur Mitgestaltung europäischer Politik im Kontext des politischen Mehrebenensystems der EU. Normativer, didaktisch ständig zu unterstreichender Ausgangspunkt aller Projektaktivitäten sind die Vertrags­grundlagen in ihrer spezifischen Eigenschaft als den Organen und Gre­mien der EU zur Verfügung gestellte Anreizstrukturen. Zum besseren Verständnis des Mikrokosmos der Parlamentsebenen stützt sich die Lehre darüber hinaus auf die Darstellung und Diskussion inter- und intrainstitutioneller Handlungsregeln in Gestalt von Geschäftsordnungen und interinstitutionellen Vereinbarungen. Die im Maastrichter Vertrag erstmals angelegte und im Lissabonner Vertrag in erheblichem Maße formalrechtlich aufgewertete Verknüp­fung der beiden Parlamentsebenen soll auf diese Weise ernst genommen werden: Die dem Projekt zugrundeliegende Leitthese, aus der sich weitere, analytische Fragen für alle Vorlesungen, Seminare, Workshops und Konferenzen ergeben, lautet:


Durch die sukzessive Ausdehnung der Befugnisse des EP und der nationalen Parlamente dokumentieren die EU-Verträge den Versuch, den polyarchischen Mehrebenencharakter europäischer Politik in seiner parlamentarischen Dimension zu formalisieren, institutionell zu verfestigen und damit dem Beteiligungsdrang der Abgeordneten des EP und der nationalen Legislativen entgegenzukommen.

 

MILDIPA geht somit den folgenden Leitfragen nach:

  • Wie passen sich die Parlamente an die zunehmende Verflechtung nationaler und übernationaler Deliberations- und Entscheidungskontexte an?
  • Welchen Herausforderungen sehen sich die Abgeordneten vor diesem Hintergrund gegenüber?
  • Welche Funktionen erfüllen die Parlamente zur Sicherstellung repräsentativ strukturierter Legitimationsketten?
  • Orientieren sich die parlamentarischen Akteure hierbei an dem Mehrebenencharakter des EU-Systems oder tendieren sie eher dahin, ihre eigenen Handlungspotenziale losgelöst von der spezifischen Struktur der EU zu definieren?
  • Lassen sich aus den Rechten der Parlamente besondere Funktions- und Rollenprofile der Abgeordneten, der Fraktionen und der Parlamente ableiten?
  • Wie lässt sich der Funktionswandel in den Parlamenten der EU erklären? Welche theoretischen Modelle eignen zur Erklärung und Generalisierung des Funktionswandels?
  • Wie können Strukturen und Prozesse des Mehrebenenparlamentarismus an die breitere BürgerInnenschaft der EU vermittelt werden? Welche Herausforderungen stellen sich hierbei den unmittelbar involvierten Akteuren, der universitären Forschung und Lehre, der schulischen und außerschulischen Bildung, den Medien und den zivilgesellschaftlichen Akteuren?

 

 Konzeptionell geht das Projekt MILDIPA somit davon aus, das die an der Genese europäischer Politik beteiligten Akteure spätestens seit dem Maastrichter Vertrag einen ‚Pfad’ des ‚Mehrebe­nenparlamentarismus‘ angelegt haben. Konzeptionell zeichnet sich dieser Pfad durch die folgenden, in den Einzelaktivitäten des Projekts näher zu beleuchtenden Indikatoren aus:

  • Strukturen, Verfahren und Instrumente der EU orientieren sich langfristig am Modell der repräsentativen Demokratie, wobei dem Mehrebenencharakter des politischen Systems durch die Einbindung der Parlamente auf und zwischen den Handlungsebenen der politischen Entscheidungsfindung besondere Rechnung getragen wird. Europäische Politikprozesse wirken dabei interdependent: Sowohl in den Mitgliedstaaten als auch im inneren EU-Institutionensystem durch den Auf-, Um- und Ausbau institutioneller Vorkehrungen zur effektiven Be- und Verarbeitung europäischer bzw. an die EU gerichteter Initiativen. Entsprechend gilt für die parlamentarischen Ebenen, dass diese zur Absicherung ihrer normativ beanspruchten Legitimationsketten nach Rechten und Rollenzuschreibungen streben, die es ihnen gestatten, den europapolitischen Problemverarbeitungsprozess zu kontrollieren, an diesem effektiv mitzuwirken oder zumindest über diesen informiert zu sein.
  • Die EU-Organe und die Regierungen der Mitgliedstaaten anerkennen die vertraglich gesetzten Rollen und hieraus abgeleiteten Funktionen der Parlamente im EU-System. Als interessengeleitete Akteure sind sie gleichwohl bestrebt, die Rollen und Funktionen der Parlamente als eigenständige Akteure im politischen Entscheidungsprozess zu hinterfragen.   
  • Die Parlamente des EU-Systems anerkennen die ihnen vertraglich zugewiesenen Rechte und Pflichten und orientieren dementsprechend die operative „Umsetzung“ der Vertragsnormen.
  • Gleichwohl sind Parlamente – bzw. die neben und in ihnen wirkenden Akteure in Gestalt der Parteien, Fraktionen, Abgeordneten und Dienste – bemüht, sämtliche theoretisch denkbaren, bzw. im jeweiligen Systemgefüge historisch gewachsenen Funktionen maximal auszufüllen.
  • Aufgrund der ebenenspezifisch definierten Funktionszuschreibungen stoßen nationale (subnationale) Parlamente und Europäisches Parlament auf funktionale Schnittmengen, die sich produktiv – z.B. durch die gegenseitige Verstärkung ihrer Kontrollfunktionen gegenüber den jeweils wirksamen Exekutiven – oder obstruktiv oder sogar destruktiv – z.B. durch die Antagonisierung der europapolitischen Interessen der beiden Parlamentsebenen nutzen lassen.
  • Die institutionelle, prozedurale und instrumentelle Ausgestaltung der parlamentarischen Mitwirkung an „EU-Angelegenheiten“ vollzieht sich auf und zwischen ihren unmittelbaren Handlungsebenen. Unilaterale  Mitwirkungsmechanismen richten sich hierbei auf das Interaktionsgeflecht zwischen Parlamenten und den ihnen unmittelbar verantwortlichen Exekutiven; bi- und multilaterale Mitwirkungsmechanismen auf die interparlamentarische Zusammenarbeit (Scoffoni 1992; Maurer 1996; Pöhle 1998; Costa/Latek 2001; Maurer 2002; Larhant 2005; Crum/Miklin 2011) im Hinblick auf diejenigen mit Exekutivmacht ausgestatten Institutionen.