Die Reformen des Vertrages von Lissabon

Der Europäische Rat und sein Präsident

Seit Inkrafttreten des Reformvertrages haben sich die Arbeitsgrundlagen des Systems aus Ministerrat und Europäischem Rat massiv verändert. Das bislang eingeübte, institutionelle "Dreieck" aus Parlament, Rat und Kommission mutiert in ein Vieleck mit zwei neuen Vorsitzrollen: Denn erstens erhebt der Vertrag den Europäischen Rat in den Rang eines Organs der EU, zweitens erkennt der Vertrag die besondere Rolle der bislang informell tagenden "Eurogruppe" an und drittens erhalten beide aufgewerteten Institutionen gewählte Präsidenten. Trotz der im Mandat zur Regierungskonferenz 2007 vereinbarten Absage an jedwede Analogie zu staatsähnlichen Symbolen, Begriffen und Amtstiteln werden diese beiden Vorsitzenden nunmehr als "Präsidenten" ihres jeweiligen Gremiums gewählt. Die Frage der Vertretung EU-Europas ist mit dieser neuen Struktur weiterhin unbeantwortet. Denn neben den beiden neuen "Präsidenten" agieren weiterhin der - vom Europäischen Parlament gewählte - Kommissionspräsident und die mit besonderen Vorsitz- und Führungsaufgaben betraute, zwischen Rat und Kommission angesiedelte, Hohe Vertreterin der Union für die Außen- und Sicherheitspolitik.


Darüber hinaus deutet die Praxis der Staats- und Regierungschefs in internationalen Organisationen und auf internationalen Zusammenkünften (z.B. G-8, G-20) darauf hin, dass sie ihren Anspruch auf Sichtbarkeit und Vertretung ihrer Positionen nicht zugunsten der kollektiven Präsidialorgane der EU aufgeben wollen. Und schließlich zeigt die anhaltende Diskussion um „Führungsakteure“ und entsprechende Funktionen in der bzw. für die EU, dass die im Lissabonner Vertrag normierten Regeln über die Leitung, Organisation und Vertretung der EU gegenüber dritten Staaten und Organisationen nicht die diesbezüglichen Interessen der Staats- und Regierungschefs befriedigt. Die Gründe hierfür sind vielschichtig und hängen eng mit dem Wandel des europapolitischen Grundverständnisses in den größeren bzw. wirtschaftlich stärkeren Staaten zusammen. So zeichnet sich in Politikbereichen wie der Justiz- und Innenpolitik, der Wirtschafts-, Währungs- und der Fiskalpolitik eine systematische Infragestellung der gewachsenen oder/und im Lissabonner Vertrag sanktionierten Kompetenzen der Kommission zugunsten ad hoc gebildeter Führungsgremien („Euro-Gipfel“) oder durch Gründung neuer Beratungs- und Entscheidungsstrukturen außerhalb des EU-Vertrags („Prümer Vertrag“, „Fiskalpakt“).

 

Der Präsident des Europäischen Rates

 

Am 19. November 2009 wurde der belgische Premierminister Hermann von Rompuy zum ersten ständigen Präsidenten des Europäischen Rates ernannt. Am 1. März 2012 wurde er von den Staats- und Regierungschefs für eine zweite Amtszeit von zweieinhalb Jahren, für die Zeit vom 1. Juni 2012 bis zum 30. November 2014, wiedergewählt und für denselben Zeitraum zum Präsidenten des Euro-Gipfels ernannt. Diesem besonderen, im EU-Vertrag nicht vorgesehenen Gremium sitzt er seit März 2010 vor. In seiner Funktion ist er für die Vorbereitung und Kontinuitätssicherung der Gipfeltreffen zuständig, wobei er mit dem Präsidenten der EU-Kommission zusammen arbeiten und sich auf die Vorarbeiten des Rates "Allgemeine Angelegenheiten" stützen soll. Darüber hinaus ist der Präsident aufgerufen, "auf seiner Ebene, unbeschadet der Befugnisse des Hohen Vertreters der Union für Außen- und Sicherheitspolitik, die Außenvertretung der Union in Angelegenheiten der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik" wahrzunehmen" (Art. 15 (6) Buchstabe d EUV).

 

Der um diesen Vertragsartikel geworfene Kompetenz- und Verantwortungsschleier lichtet sich erst beim Blick auf die im EUV und AEUV angeführten Handlungsermächtigungen des Europäischen Rates. Denn erst diese geben das sachliche Aufgabenspektrum des Präsidenten des Europäischen Rates wieder.

Nach Art. 15 (1) EUV gibt der Europäische Rat "der Union die für ihre Entwicklung erforderlichen Impulse und legt die allgemeinen politischen Zielvorstellungen und Prioritäten fest". Diese Rollendefinition lehnt sich an die gültige Funktionszuschreibung aus dem Vertrag von Nizza an. Gleichwohl gehen die im EUV und im AEUV einzeln aufgeführten Handlungsermächtigungen des Europäischen Rates weit über die in Art. 15 (1) EUV definierte Rolle hinaus. Der Europäische Rat verfügt nämlich über zahlreiche Beschlussfassungs-, Benennungs-, Wahl- und Abberufungsrechte:

 

a) Beschlussfassungsrechte institutioneller Art erhält der Europäische Rat im Hinblick auf die Zustimmung zum Vorschlag über die Zusammensetzung des Europäischen Parlaments, zur Festlegung der Zusammensetzung der einzelnen Ratsformationen, zur Festlegung des Rotationsprinzips in den Ratsformationen, zur Verlängerung der Aus- nahmebestimmungen im Protokoll über die Vertretung der Bürger im Europäischen Parlament und die Stimmengewichtung im Rat, zur Überführung besonderer Rechtsetzungsverfahren in das normale Gesetzgebungsverfahren, zur Überführung der Einstimmigkeitspflicht im Rat in den Entscheidungsmodus der qualifizierten Mehrheit, zur Festlegung der paritätischen Rotation innerhalb der Kommission und zur Prüfung der vorgeschlagenen Änderungen zu den Verträgen und der Festlegung eines Mandats für neuerliche Regierungskonferenzen.

 

b) Politikbereichsspezifische Beschlussfassungsrechte überträgt der Vertrag dem Europäische Rat zur Verabschiedung allgemeiner GASP- Beschlüsse, zur Überführung des Entscheidungsmodus des Rates in der GASP von der Einstimmigkeit in die qualifizierte Mehrheit, zu der Feststellung, dass die gemeinsame Verteidigungspolitik zu einer gemeinsamen Verteidigung führt, zur Festlegung von Leitlinien hinsichtlich der Abkommen der Union mit einem Mitgliedstaat, der aus der Union auszutreten beabsichtigt, zur Fristverlängerung im Hinblick auf die Anwendung der EU-Verträge in einem Mitgliedstaat, der aus der Union austritt, zur Verabschiedung von Schlussfolgerungen zu den Grundzügen der Wirtschaftspolitik der Mitgliedstaaten und der Union, zur Verabschiedung von Schlussfolgerungen zur Beschäftigungslage, zur Festlegung der strategischen Leitlinien für die legislative und operative Programmplanung im Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts, zur Festlegung der strategischen Interessen und Ziele der Union, sowie zur Verabschiedung von Beschlüssen über andere Bereiche des außenpolitischen Handelns der Union, die Beziehungen der Union zu einem Land oder einer Region, oder zu Fragen mit verteidigungspolitischen Bezügen, und zur Einschätzung der Be- drohungen, denen die Union ausgesetzt ist.

 

c) Wahl-, Benennungs- und Abberufungsrechte macht der Europäische Rat geltend bei der Wahl seines Präsidenten für einen Zeitraum von zweieinhalb Jahren und seiner vorzeitigen Entpflichtung, der Benennung des Präsidenten der Europäischen Kommission, und der Ernennung (nach Zustimmung des Europäischen Parlaments und des Kommissionspräsidenten) und Abberufung der Hohen Vertreterin.

 

d) In ihren Wirkungen nicht eindeutig definierte Beschluss- und Weisungsrechte erhält der Europäische Rat gegenüber dem Ministerrat zur Bestimmung der strategischen Interessen der Union und zur Festlegung der Ziele ihrer Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik. Darüber hinaus verfügt der Europäische Rat seit Dezember 2009 über ein Konsultationsrecht gegenüber jedem Mitgliedstaat, wenn dieser auf internationaler Ebene tätig wird oder eine Verpflichtung eingeht.

 

Erst die genannten, neuen Handlungsermächtigungen des Europäischen Rates geben das sachliche Aufgabenspektrum und Potential des Präsidenten des Europäischen Rates wieder. Fraglich ist somit, ob der der Präsident über ausreichende personelle, administrative, finanzielle und politische Ressourcen verfügt, um den Führungs-, Leitungs-, Vorbereitungs-, Kontinuitätssicherungs-, Konsensförderungs- und Vertretungsaufgaben gerecht zu werden, wie sie bis zum Inkrafttreten des Lissabonner Vertrages von den Staats- und Regierungschefs der jeweils vorsitzführenden Länder wahrgenommen wurden. Zudem drängt sich die Frage auf, ob der Präsident eine ähnliche Impulsgeberkraft und Repräsentationsleistung entwickeln kann wie sie vereinzelt von den Staats- und Regierungschefs in ihrer Funktion als Ratspräsident/in ausgeübt wurde. Ebenso zentral war bislang die Vermittlungsrolle "nationaler" Präsidentschaften in den Verhandlungen über europäische "Großprojekte" wie Vertragsänderungen, Erweiterungen und längerfristigen Strategien wie zuletzt im Bereich der Klima- und Energiepolitik. Angesichts der in 50 Jahren Integration entwickelten "Mitführungsrolle" der Staats- und Regierungschefs bleibt fraglich, ob sie als Schattenpräsidenten weiterhin die Fäden in der Hand halten, an der Seite des EU-Präsidenten kooperativ agieren oder ihre zentrale Rolle an ihn abtreten.

Verloren geht im neuen System auch die Repräsentationsrolle der mitgliedsstaatlichen EU-Ratspräsidenten gegenüber ihren nationalen Öffentlichkeiten. Die "nationale" EU-Ratspräsidentschaft diente den jeweiligen Regierungen bislang nicht nur zur Profilierung auf der europäischen Ebene, sondern auch auf der nationalen. Die herausgehobene Rolle der Regierungschefs als EU-Ratspräsidenten, die in dem seit Dezember 2009 gültigen System nicht kompensiert wird, macht die Entwicklung gewisser Antagonismen zwischen den nunmehr auch während ihrer eigenen Präsidentschaft zu »normalen« Mitgliedern des Europäischen Rates degradierten Regierungschefs und dem neuen Präsidenten wahr- scheinlich. Angesichts ihres möglichen Bedeutungsverlustes schien der Anreiz der Staats- und Regierungschefs, den neuen Vorsitzenden des Europäischen Rates mit umfassenden Ressourcen und Aufgaben auszustatten und das Amt mit einer starken Persönlichkeit auszustatten, nicht sonderlich groß. Andererseits zeigen die jüngere Entwicklung der EU im Bereich der Wirtschafts-, Fiskal- und Wirtschaftspolitik, dass sich Staats- und Regierungschefs größerer Staaten, insbesondere Deutschlands und Frankreichs, nicht auf die Rolle einfacher „Mitglieder des Europäischen Rates“ zurückziehen, sondern statt dessen eigenständige Impulsgeber- und Führungsfunktionen entwickeln, in denen dem Europäischen Ratspräsidenten allenfalls Sprecher-, Moderations- und Mediationsfunktionen zugestanden werden.

 

Angesichts ihres formalen Bedeutungsverlustes ist der Anreiz der Staats- und Regierungschefs, den Vorsitzenden des Europäischen Rates mit umfassenden Ressourcen und Aufgaben auszustatten, nicht sonderlich groß. Fraglich bleibt darüber hinaus, ob der EU-Ratspräsident aufgrund des umfänglichen Aufgabenzuschnitts des Europäischen Rates über ein ausreichendes Maß an Anerkennung unter den Staats- und Regierungschefs und Legitimität verfügt. Denn während z.B. die Regierungsvertreter der rotierenden Ratspräsidentschaft zumindest dem jeweiligen nationalen Parlament gegenüber rechenschaftspflichtig sind, gilt für Van Rompuy nichts Entsprechendes. Weder die nationalen Parlamente noch das Europäische Parlament verfügen über Instrumente, um regelkonformes Verhalten des EU-Präsidenten zu belohnen oder regelaverses Verhalten zu sanktionieren.

 

Organisationsprobleme

 

Im Bereich der europäischen Gesetzgebung ist - angesichts der in den letzten Jahren beobachteten Realentwicklung des Europäischen Rates im Verhältnis zu den anderen Fachräten - davon auszugehen, dass sich die Rolle des Europäischen Rates als höchste Schlichtungs- und Schiedsinstanz in denjenigen Fällen weiter entwickeln wird, in denen mehrere Fachratsformationen zu gegensätzlichen Haltungen und Positionen im Gesetzge- bungsprozess gelangen, und in denen der Allgemeine Rat (der Außenminister, mit weiterhin rotierendem Vorsitz) nicht zu einer Einigung gelangt. Der Europäische Rat entwickelt sich in diesem Fall zu einer Art "Oberrat", der nach Art. 15 (1) EUV zwar nicht "gesetzgeberisch tätig" werden darf, aber doch als letzte und höchste Instanz politische Beschlüsse im Namen der Staaten verabschiedet und diese faktisch als Weisungen an die einzelnen Fachratsformationen weiterleitet. Augenfälliges Beispiel dieser Entwicklung ist der Bereich der Währungs- und Wirtschaftspolitik, in der Van Rompuy und der Europäischen Rat maßgeblich die Entscheidungen zur Bewältigung der Währungs-, Wirtschafts- und Schuldenkrise vorangetrieben haben.

Langfristig wird jedoch der Druck auf die Staats- und Regierungschefs sowie die ihnen angeschlossenen Verwaltungsapparate zunehmen, entsprechend neuartige, auf das Amt und die Funktion des Präsidenten zugeschnittene Koordinierungs- und Weisungsstrukturen aufzubauen bzw. weiter zu entwickeln. Diese Entwicklung hat mittelbare Folgen für

 

- das Verhältnis der Außenminister (als Vertreter im Allgemeinen Rat) zu den Fachministern (als Vertreter in den Fachräten),

 

- für das Verhaätnis zwischen den Staats- und Regierungschefs und ihren Pendants in Drittstaaten, wenn es um die Organisation und Durchführung bilateraler Gipfel und internationaler Konferenzen geht, und

 

- für das Verhältnis der Außenminister (als Vertreter im Allgemeinen Rat) zu ihren Staats- und Regierungschefs in der Vorbereitung Europäischer Ratssitzungen, insbesondere im Hinblick auf die Einrichtung spezifischer Konsultations- und Koordinierungsmechanismen zwischen den "national" geführten Fachpräsidentschaften und den Gipfelvorsitzen des Europäischen Ratspräsidenten.

 

Unklar ist nach wie vor, wer in längerfristig angelegten, strategischen Projekten wie der Rohstoff-, Energie- und Klimapolitik die Fäden zwischen Fach- und Gipfeltreffen zusammenführt, wer die Schlussfolgerungen des Vorsitzes künftig nicht nur formal autorisiert, sondern auch gegenüber Dritten im Sinne des Europäischen Ratspräsidenten glaubwürdig vertritt. In den ersten zwei Jahren seit Inkrafttreten des Lissabonner Vertrages ist jedenfalls nicht zu beobachten, dass sich Staats- und Regierungschefs hinter "ihren" Präsidenten stellen. Ihre Reaktionen auf die Aufstände in der arabischen Welt und die anhaltende Währungskrise deuten eher darauf hin, dass sie nach wie vor der Versuchung unterliegen, nationale "Nebenpräsidentschaften" zu organisieren.

 

Dabei könnte gerade in der Außenpolitik die Stärkung des Europäischen Rates durch die gemeinsame Positionierung der Staats- und Regierungschefs gegenüber Drittstaaten zu einer effektiven Stärkung der Union insgesamt führen.

Außenpolitisch kann die Stärkung des Europäischen Rates im positiven Fall, durch die gemeinsame Positionierung der Staats- und Regierungschefs gegenüber Drittstaaten, zu einer Stärkung der Union insgesamt führen. Demgegenüber bleibt allerdings die Gefahr einer Blockade des Europäischen Rates als politisch bedeutendstes Entscheidungsgremium der Staaten weiterhin bestehen, was dann zu einem Ausweichen einzelner Staatengruppen auf Formen der "verstärkten Zusammenarbeit" im, d.h. nach den Regeln des EUV, oder außerhalb des EUV, führen kann. Insbesondere die letzte Option birgt im Endeffekt die Gefahr der Aushöhlung der Union auf rein wirtschaftliche Zusammenhänge.

 

Die Aufwertung des Europäischen Rates im interinstitutionellen Gefüge der Union wurde seit Mitte der 1990er Jahre von den größeren EU- Mitgliedstaaten mit viel Einsatz und letztlich erfolgreich vorangetrieben. Sowohl deutsch-französische als auch spanisch-italienische und verschiedene britische Initiativen haben hierzu entscheidend beigetragen. Im Ergebnis wurde über die Aufgabenzuweisungen des Europäischen Rates in den Bestimmungen des AEUV ein Organ ins Leben gerufen, dessen Zuständigkeiten nicht nur impulsgebender Natur sind. Die institutionelle Balance zwischen dem Europäischen Parlament, dem Rat und der Kommission hat sich dabei zu Lasten der Kommission verändert.

Entscheidend für das Funktionieren des neuen Systems im Europäischen Rat wird somit sein, welche Rolle die Mitglieder des Europäischen Rates ihrem Präsidenten im Alltag seiner Arbeit zugestehen wollen. Da er kein einzelstaatliches Amt innehaben darf, d.h. ihm eine direkte Hausmacht fehlt, kann er - hier lassen EUV und AEUV vieles offen - zum Spielball der Staats- und Regierungschefs im Europäischen Rat werden, genauso aber aufgrund seiner Persönlichkeit eine starke Rolle gegenüber allen Organen der EU spielen, oder sich genötigt sehen, seine Stärke aus der Zusammenarbeit mit den anderen europäischen Institutionen zu beziehen.