Die Reformen des Vertrages von Lissabon

Die nationalen Parlamente und die Beteiligungsrechte des Bundestags

 

Daniela Kietz / Andreas Maurer (Juni 2012)

Mit Artikel 12 EUV widmet sich ein ganzer Vertragsartikel erstmals der Rolle der nationalen Parlamente in der Europäischen Union (EU). Damit werden die Rechte und Aufgaben nationaler Parlamente prominent im Vertragstext selbst geregelt. Zusätzlich konkretisieren zwei Protokolle zum Vertrag diese Vorschriften –– das Protokoll über die Rolle der nationalen Parlamente in der Europäischen Union (PNP) und das Protokoll über die Anwendung der Grundsätze der Subsidiarität und der Verhältnismäßig- keit (PSV).

 

Die formale Aufwertung entspricht dem hohen Stellenwert, den die Frage nach einer stärkeren Einbeziehung der nationalen Parlamente in die EU-Politik –– und damit nach einer stärkeren demokratischen Legitimation europäischer Entscheidungen –– in den Debatten im Europäischen Konvent und den darauf folgenden Regierungskonferenzen einnahm.

 

Ausweitung der Informationsrechte

 

Die neuen Vertragsvorschriften weiten die allgemeinen Informationsrechte nationaler Parlamente deutlich aus. Das PNP in seiner durch den Vertrag von Amsterdam (1997/1999) eingeführten Fassung sah zweierlei vor: Erstens sollten Regierungen ihren Parlamenten die Legislativentwürfe der Kommission übermitteln. Zweitens sollten den Parlamenten Konsultationsdokumente wie Grün- und Weißbücher übersandt werden. Auf deren Grundlage könnten sich Parlamente bereits in der frühen, vorlegislativen Phase mit den politischen Entwicklungen auf europäischer Ebene befassen.

 

Grundsätzlich sind die nationalen Parlamente an den Entscheidungsprozessen der EU in dreierlei Hinsicht beteiligt: Erstens kontrollieren sie ihre Regierungen im Hinblick auf deren Mitwirkung an der Unionsgesetzgebung. Hierbei wirken sie an der Formulierung der von der Regierung verfassten und später im Ministerrat verhandelten, nationalen Position zu EU-Legislativvorschlägen mit. Sie setzen zweitens das von den Organen der EU erlassene Unionsrecht um und inkorporieren es in die nationalen Rechtsordnungen. Und drittens üben die Parlamente bestimmte, in den Verträgen der EU festgelegte Funktionen wie die Ratifizierung von Vertragsänderungen, EU-Beitritten oder bestimmten, sogenannten ‚‚gemischten‘‘ internationalen Abkommen aus.

 

Darüber hinaus verlangen die EU-Verträge für bestimmte Beschlüsse des Rates deren Annahme durch die Mitgliedstaaten „„gemäß ihren verfassungsrechtlichen Vorschriften““ (z.B. Art. 42, 48(4), 48(6), und 49 EUV, Art. 25, 218(8), 223, 262 und 311 AEUV, sowie Art. 40.2 der Satzung des Europäischen Systems der Zentralbanken und der Europäischen Zentral- bank). Bei der Wahrnehmung dieser Aufgaben tragen die Parlamente unabhängig vom Europäischen Parlament zur demokratischen Legitimation des Handelns der Europäischen Union bei. Zur Umsetzung ihrer Mitwirkungsrechte waren die Parlamente bis 2006 auf die Weiterleitung der EU-Dokumente durch die Regierungen angewiesen. In einigen Fällen (sehr ausgeprägt z.B. in Dänemark, Finnland und Großbritannien) stellten diese auch zusätzliche Informationen zur Verfügung –– zum Beispiel Angaben zur nationalen Positionierung, zum Meinungsstand in Rat und Europäischem Parlament (EP), oder zu den rechtlichen, finanziellen, sozialen, oder ökologischen Auswirkungen des EU-Vorhabens auf der mitgliedstaatlichen Ebene. Wie umfassend und innerhalb welcher Fristen Regierungen ihre Parlamente unterrichteten wurde allein durch nationale Regelungen bestimmt. Einige Parlamente nutzten dazu ergänzend eigene Dienste und Kanäle zur Informationsbeschaffung, wobei sie auf das 1995 vom Europäischen Parlament ausgesprochenen Angebot zur Eröffnung nationalparlamentarischer Büros in dessen Brüsseler Räumlichkeiten zurückgriffen. Der Deutsche Bundestag gründete erst 2007 sein eigenes Verbindungsbüro; im Unterschied zu allen anderen nationalen Parlamenten allerdings außerhalb des Europäischen Parlaments.

 

Die neuen Bestimmungen des PNP und des PSV sollen die Abhängigkeit der Parlamente von den Regierungen im Hinblick auf die Ausgestaltung ihrer Informations-, Kontroll- und Mitwirkungsrechte reduzieren und sie vor allem in die Lage versetzen, ihre neuen Rechte im Rahmen der Subsidiaritätspüfung wahrzunehmen. Die Protokolle wurden im Verfas- sungskonvent erarbeitet, dem Verfassungsvertrag beigefügt und in überarbeiteter Form dem Lissabonner Vertrag angehängt. Im Verhältnis zu den Bestimmungen des ehemaligen EG- und EU-Vertrages erweitern sie die

Liste der Dokumente, die den Parlamenten zur Verfügung gestellt werden müssen. Zum anderen schreiben sie eine direkte Übermittlung der Dokumente durch die EU-Institutionen, ohne den Umweg über die Regierungen vor.

 

Entsprechend der beiden Protokolle muss die Kommission den nationalen Parlamenten ihre Legislativentwürfe, alle Arten von Konsultations- und Strategiedokumenten sowie das jährliche Rechtsetzungsprogramm übermitteln. Ebenfalls direkt zugestellt werden Initiativen einer Gruppe von Mitgliedstaaten, Anträge des Europäischen Gerichtshofs,  Empfehlun- gen der Europäischen Zentralbank und Anträge der Europäischen Investi- tionsbank, die den Erlass eines Gesetzgebungsakts zum Ziel haben. In diesen Fällen übernimmt der Rat die Weiterleitung an die Parlamente. Hierzu gehören auch seine Tagesordnungen, die Tagungsergebnisse einschließlich der Protokolle (über Beratungsvorgänge zu Gesetzgebungs- vorschlägen) sowie seine im Rahmen des Gesetzgebungsprozesses ange- nommenen Standpunkte. Das EP hat seine Initiativen, die auf den Erlass eines Unionsaktes abzielen, und seine im Rahmen der Gesetzgebungsver- fahren erlassenen Entschließungen an die Parlamente weiterzuleiten.

 

Aus anderen Bestimmungen des Vertragstextes ergeben sich weitere Informationspflichten für den Rat. Dieser ist angehalten die Parlamente über folgende Vorhaben und Sachverhalte zu unterrichten und die dazugehörigen Dokumente weiterzuleiten:

  • Beitrittsgesuche von Drittstaaten (Art. 49 EUV),
  • Beschlüsse des Europäischen Rates zur Änderung der Bestimmungen zu den internen Politikbereichen der EU (Art. 48(7) EUV); diese Beschlüsse werden außerdem erst nach Ratifikation in den Mitgliedstaaten rechtskräftig,
  • Initiativen vor einem Beschluss des Europäischen Rates über den
  • Übergang von einem spezifischen zum ordentlichen Gesetzgebungsverfahren (Mitentscheidungsverfahren) bzw. von der einstimmigen Beschlussfassung im Ministerrat zur qualifizierten Mehrheit (Art. 48(7) EUV),
  • die Arbeit des ständigen Ausschusses im Rat zur Verbesserung und
  • Koordinierung der operativen Zusammenarbeit im Bereich der in- neren Sicherheit (Art. 71 AEUV),
  • sowie die von Kommission und Mitgliedstaaten durchzuführende Bewertung der Durchführung der Unionspolitik in der Justiz- und Innenpolitik (Art. 70 AEUV).

 

Die seit langem monierten Schwachstellen im Hinblick auf den Kontrollumfang und die Mitwirkung der nationalen Parlamente an der Arbeit der EU-Organe werden durch diese Rechte allerdings nur ansatzweise behoben. Die Informationsrechte bleiben nämlich auf den Bereich der Gesetzgebung beschränkt. Infolge der in den Art. 288–292 AEUV statuierten Normenhierarchie der Handlungsformen der Union besteht daher auch seit Inkrafttreten des Lissabonner Vertrages kein hieraus ableitbarer Zwang zur Information und Konsultation der nationalen Parlamente im Falle folgender Maßnahmen und Beschlüsse der EU-Organe:

 

 

§   im Rahmen der multilateralen Überwachung der Wirtschaftspolitik:

a) vor der Annahme der Grundzüge der Wirtschaftspolitik der EU-Mitgliedstaaten und der Union durch den Rat (Art. 121 AEUV) und

b) vor der Annahme von Empfehlungen des Rates an diejenigen Mitgliedstaaten, deren Wirtschaftspolitik nicht mit den Grund- zügen der EU-Wirtschaftspolitik vereinbar ist und insofern das Funktionieren der Wirtschafts- und Währungsunion zu gefähr- den droht (Art. 121.4 AEUV);

§   im Rahmen der Überwachung der Haushaltslage in den Mitgliedstaaten mit dem Ziel der Einhaltung der Haushaltsdisziplin (Art. 126 AEUV):

a)  vor der Veröffentlichung der Empfehlungen des Rates an ein EU- Mitglied (‚blaue Briefe‘),

b) vor einem Beschluss des Rates, durch den der Mitgliedstaat mit der Maßgabe in Verzug gesetzt wird, innerhalb einer bestimmten Frist Maßnahmen für den zur Sanierung erforderlichen Defizitabbau zu ergreifen, und

c) vor einem Beschluss des Rates, in dem der betreffende Mitglied- staat aufgefordert wird, (a) vor der Emission von Schuldver- schreibungen und sonstigen Wertpapieren vom Ministerrat her zu bezeichnende zusätzliche Angaben zu veröffentlichen oder (b) eine unverzinsliche Einlage in angemessener Höhe bei der Union zu hinterlegen, bis der Ministerrat zu der Auffassung gelangt, dass das übermäßige Defizit korrigiert worden ist, oder

(c)   die Europäische Investitionsbank ersucht wird, ihre Darle- henspolitik gegenüber dem Mitgliedstaat zu überprüfen, oder

(d)   eine Geldbuße verhängt wird;

§  im Rahmen der jährlichen Überprüfung der Beschäftigungslage (‚Luxemburgprozess‘) vor der Annahme von beschäftigungspolitischen Empfehlungen an die Mitgliedstaaten (Art. 148 AEUV);

§  vor einem Beschluss des Europäischen Rates über den Übergang von der einstimmigen Beschlussfassung im Ministerrat zur qualifizierten Mehrheit (Art. 31(3) und 31(4) EUV);

§  bei allen Maßnahmen des Rates und des Europäischen Rates im Bereich der Gemeinsamen Außen-, Sicherheits- und Verteidigungspo- litik (GASP und GSVP) der EU;

§  zu Beratungsunterlagen des Rates und des Europäischen Rates mit Blick auf die Vorbereitung von Beschlüssen aus den operativen Aus- schüssen in der Handelspolitik, der GASP/GSVP, der Währungsunion, der Beschäftigungspolitik und der Sozialschutzpolitik;

§  zu Dokumenten aus dem Dialog zwischen den Sozialpartnern, deren Arbeiten zum Abschluss von Vereinbarungen führen können und im Rat Gegenstand eines Beschlusses sind; und

 

§  zu  den  Anträgen  über  den  Eintritt  in  eine  spezifische  Form  der verstärkten Zusammenarbeit sowie über die Gründung, den Eintritt, den Austritt und den Ausschluss im Bereich der ständigen, strukturierten Zusammenarbeit der GSVP.

 

Dass die Vertreter der nationalen Parlamente im Konvent ihre fallbezoge- ne, in der Summe nach wie vor beachtliche Nichtbeteiligung mitgetragen haben, ist größtenteils darauf zurückzuführen, dass sie selbst die Thema- tik der nationalparlamentarischen Mitwirkung in EU-Angelegenheiten auf die Problematik der Subsidiaritätskontrolle reduzierten.

 

Nach dem Scheitern des Verfassungsvertrages erklärte sich die Kommis- sion bereit, den Änderungen des Vertrages vorzugreifen und stellte den Parlamenten bereits seit September 2006 alle Vorschläge und Konsultati- onsdokumente elektronisch zu („Barroso Initiative“).

 

Mit Inkrafttreten des Lissabonner Vertrages waren auch Rat und EP aufgefordert, ihren

Informationspflichten nachzukommen. Das Europäische Parlament leitet seine legislativen Entschließungen direkt weiter und der Rat hat im Frühjahr 2010 die direkte, elektronische Übermittlung der oben genannten Dokumente aufgenommen.

 

Der Zugang zu Informationen bildet die Grundvorrausetzung für eine effektive Mitwirkung der nationalen Parlamente in der Europapolitik. Die direkte Übermittlung von Dokumenten durch die EU-Institutionen ist daher grundsätzlich positiv zu beurteilen. In der Praxis ist die Bedeutung der neuen Regelungen jedoch begrenzt, denn immer weniger Parlamente sind auf die direkte Übermittlung durch eines der angesprochenen EU- Organe angewiesen. Stattdessen versorgen sich die meisten Parlamente mittlerweile autonom und greifen auf die vertraglich zugesicherten Informations- und Zuleitungsroutinen als Instrument der Kontrolle des regelkonformen Verhaltens der Informationsträger zurück. Für diejenigen Parlamente aber, die bisher von ihren Regierungen nur unzureichend und mit großen Zeitverzögerungen mit Informationen zu europäischen Verhandlungsprozessen versorgt wurden, stellt die direkte Unterrichtung durch die EU-Institutionen einen Fortschritt dar. In Umsetzung der Lissabonner Vertragsregeln sehen mitgliedstaatliche Verfassungsnormen oder Organgesetze umfassende und fristgebundene Unterrichtungspflich- ten der Regierungen gegenüber den Parlamenten vor.

 

Immer mehr Parlamente erhalten zudem eine Vielzahl von zusätzlichen Informationen seitens ihrer Regierungen. Genau diese Zusatzinformatio- nen – wie beispielsweise regelmäßige Unterrichtungen zum Meinungs- stand in Rat und EP oder nationale Folgenabschätzungen – sind Vorrauset- zung dafür, dass Parlamente Verhandlungsprozesse kontinuierlich verfolgen und eine eigene Position entwickeln können. Parlamente, die über ihre Regierung keinen Zugang zu solchen Informationen haben, werden EU-Verhandlungsprozesse trotz der neuen Vertragsregelungen nur begrenzt begleiten können.

 

Subsidiaritätsprüfung: Direkte Mitwirkung an der europäischen Gesetzgebung

 

Bis zum Inkrafttreten des Lissabonner Vertrages konzentrierten die Parlamente der Mitgliedstaaten ihr Wirken auf die nationale Ebene. Sie gestalten die Europapolitik ihres Landes, indem sie zu europäischen Grundsatzthemen, Gesetzesinitiativen, Initiativen für Vertragsänderungen und Beitrittsgesuchen von Drittstaaten etc. beraten, und ihren Regierungen durch Stellungnahmen Leitlinien für die Verhandlungen im Rat an die Hand geben. Auf diese Weise wird die parlamentarische Rückkopplung und Legitimation europäischer Politik gewährleistet. Parlamente wirken somit vorrangig indirekt – über ihre Regierungen – an EU- Verhandlungsprozessen mit.

 

Über welche konkreten Verfahren, mit welcher Regelmäßigkeit und in welchem Umfang Parlamente an der Gestaltung der nationalen Europapolitik mitwirken, variiert zwischen den Mitgliedstaaten. Diesbezüglich bestätigt der Lissabonner Vertrag die Bestimmung vorangegangener Verträge, nämlich dass die „Art der Kontrolle der Regierungen durch die nationalen Parlamente hinsichtlich der Tätigkeiten der EU Sache der besonderen verfassungsrechtlichen Gestaltung und Praxis jedes Mitgliedstaats ist“. Die Architekten der Verträge hatten nicht die Absicht, die Europapolitik in den Mitgliedstaaten „von oben“ zu parlamentarisieren, indem sie einheitliche Mitwirkungs- und Kontrollrechte der Parlamente gegenüber ihren Regierungen festschreiben.

 

Allerdings führt der Lissabonner Vertrag ein neues Instrument ein, das es den nationalen Parlamenten erstmals erlaubt, sich direkt – also unabhän- gig von ihren Regierungen – in den europäischen Gesetzgebungsprozess einzuschalten.  Erstens  sollen  nationale  Parlamente Entwürfe  für  EU-Rechtsakte auf die Einhaltung des in Artikel 5 EUV  festgeschriebenen

Grundsatzes der Subsidiarität hin prüfen. Zweitens können sie  gegen einen Rechtsakt wegen Verstoß gegen das Prinzip vor dem EuGH klagen:

 

-      Binnen acht Wochen nach dem Zeitpunkt der Übermittlung eines

Gesetzesentwurfs in den Amtssprachen der Union können die natio- nalen Parlamente in einer begründeten Stellungnahme an die Präsi- denten des EP, des Rates und der Kommission darlegen, weshalb der Entwurf ihres Erachtens nicht mit dem Subsidiaritätsprinzip verein- bar ist. In diesem Verfahren hat jedes Parlament zwei Stimmen. In Zwei-Kammer-Parlamenten hat dabei jede Kammer eine eigene Stimme und eigenes Recht zur Stellungnahme sowie zur Klageerhebung vor dem EuGH. Über welche innerstaatlichen Verfahren Stellungnahmen

beschlossen und Klagen erhoben werden können, ist im nationalen Recht und den Geschäftsordnungen der Kammern geregelt.

 

-        Erreicht  die  Anzahl  begründeter  Stellungnahmen  mindestens  ein

Drittel der Gesamtzahl der den nationalen Parlamenten zugeteilten Stimmen („gelbe Karte“), so muss der Entwurf durch den Urheber – in der Regel die Kommission – überprüft werden. Der Urheber des Gesetzentwurfs hat in der Folge drei Möglichkeiten: Er kann den Entwurf verwerfen und damit den Gesetzgebungsprozess  beenden.  Mit einer Begründung kann er aber auch am Entwurf festhalten oder ei- nen überarbeiteten Entwurf vorlegen  und  das  Gesetzgebungsverfah- ren fortsetzen.

 

-        Erreicht in einem ordentlichen Gesetzgebungsverfahren die Anzahl

der Stellungnahmen mindestens die Hälfte der den Parlamenten zu- gewiesenen Stimmen („orangene Karte“) und entscheidet sich die Kommission nach einer Überprüfung des Entwurfs an dem Vorschlag unverändert festzuhalten, werden die Stellungnahmen der Parlamente und die Begründung der Kommission dem EP und dem Rat vorgelegt. Diese müssen vor Abschluss ihrer ersten Lesung prüfen, ob der Gesetzesvorschlag in Einklang mit dem Subsidiaritätsprinzip steht. Sie können gegebenenfalls mit 55 Prozent der Stimmen im Rat bzw. einer Mehrheit im Europäischen Parlament entscheiden, den Gesetzgebungsprozess zu beenden.

 

-        Da in diesem Verfahren den Bedenken der Parlamente nicht zwingend

Rechnung getragen werden muss, sieht der Vertrag eine zweite Stufe nach Erlass der Rechtsakte vor: Parlamente können – vertreten durch ihre Regierung – eine Nichtigkeitsklage vor dem EuGH gegen Rechtsakte anstreben, die ihres Erachtens nicht mit dem Subsidiaritätsprinzip vereinbar sind.

 

Theoretisch ist natürlich denkbar, dass sich nationale Parlamente über die Defensivlogik des PSV hinwegsetzen und explizit positive oder über den Vorschlag der Kommission hinausgehende Stellungnahmen abgeben, um etwa die Regierung in ihrer gegebenenfalls in Umrissen bekannten Position gegenüber Interessen Dritter zu stützen oder aber der Regierung frühzeitig eine Orientierung für der Weiterbehandlung des Vorschlags im Rat zu geben. Ähnlich gelagerte Signalwirkungen könnten derartige Positivstellungnahmen auch gegenüber dem Europäischen Parlament entfalten, wenn ersichtlich ist, wie sich dessen Mehrheiten aufstellen werden. Andererseits ist aber auch denkbar, dass der Mechanismus von den Regierungen instrumentalisiert wird, um ihren ohnehin ablehnenden Positionen im Rat ‚parlamentarische Rückendeckung‘ zu verleihen und diese damit ‚robuster‘ präsentieren zu können, indem sie den Parlamenten

– in der Praxis ihren sie stützenden Mehrheitsfraktionen – abhängig von der eigenen Position nahe legen, negative Stellungnahmen abzugeben. Diese Fallkonstellation ist wahrscheinlicher als die erstgenannte, da sich die Verfassungsrealität bei fast allen Mitgliedstaaten durch die Gewalten- verschränkung zwischen Regierung und parlamentarischer Mehrheit auszeichnet und kaum anzunehmen ist, dass der europäische Impuls des PSV zu einer Hinterfragung dieser gewachsenen Grundstrukturen der politischen Systeme führen wird. Die effektive Nutzung des zweischneidigen, ausschließlich auf Obstruktion angelegten Instruments, das bezeichnenderweise schon im Verfas- sungskonvent als „Frühwarnmechanismus“ („early warning system“ bzw. „système d'alerte précoce“) gefeiert wurde, hängt somit wesentlich von der Selbstwahrnehmung der Parlamente und ihrer maßgeblichen Akteure in Gestalt der Fraktionen und Parteien hinsichtlich ihrer Rolle gegenüber den nationalen Exekutiven und den EU-Organen ab. ‚Kontrollbewusste Parlamente‘ verhalten sich sicherlich anders als am Konsens orientierte ‚Mitwirkungsparlamente‘. Die direkte Einspruchsmöglichkeit der Parlamente im Vorlauf des eigentlichen Gesetzgebungsprozesses (ohne formalen Einfluss der nationalen Regierungen) und die direkte Zuleitung aller Dokumente der EU-Institutionen (an Stelle der teilweise selektiven Kanalisierung über die Regierungen) stärken die Parlamente zumindest potenziell in ihrer Handlungsautonomie gegenüber den nationalen Regierungen.

 

Der in Art. 12 EUV normierte Auftrag an die Parlamente, „aktiv zur guten Arbeitsweise der Union“ beizutragen, das aus dem PNP-L hervorge- hende Selbstbefassungsrecht der Parlamente und das aus dem PSV abgeleitete Recht zur Stellungnahme gegenüber den EU-Institutionen besitzen auf jeden Fall das Potenzial zur Profilierung der Parlamente gegenüber ihren Regierungen. Gleichwohl sehen die Lissabonner Vertrags- bestimmungen keine Schranken vor, die eine Sinnentleerung der im PSV angelegten Prozesse – beispielsweise durch den Oktroi des jeweiligen Regierungsstandpunktes auf die Parlamentsmehrheit – auf nationaler Ebene zu verhindern helfen.

 

Inwieweit die Bedeutung der nationalen Parlamente im europäischen Politikprozess durch die neuen Beteiligungsmöglichkeiten wirklich aufgewertet wird, ist umstritten. Viele Beobachter schreiben den neuen Verfahren einen eher symbolischen Wert zu. Gegen eine hohe Praxis- Relevanz der Subsidiaritätsprüfung spricht, dass solche in der Substanz rechtlichen Prüfungen nicht der Funktionslogik von Parlamenten als politische Institutionen entsprechen. Politische Fraktionen in Parlamenten bewerten EU-Vorhaben danach, ob sie mit ihren politischen Zielen vereinbar sind und wollen gegebenenfalls ihre inhaltlichen Bedenken zu EU-Gesetzesvorschlägen zu äußern. In der Regel spielt sich die Auseinandersetzung über EU-Vorhaben zwischen Regierungsfraktionen und Oppositionsfraktionen im Parlament ab. Vielfach wird darauf verwiesen, dass die Subsidiaritätsprüfung diesem Muster nicht folgt. Stattdessen sollen Parlamente „en bloc“ eine komplexe Rechtskontrolle durchführen, um ihre eigenen Gesetzgebungskompetenzen zu wahren. Adressaten sind nicht die eigenen Regierungen, sondern die EU-Organe. Dieses Recht ist daher als reines Abwehrrecht konzipiert, das den Parlamenten keinen Einfluss auf die inhaltliche Gestaltung europäischer Politik zugesteht.

 

Zudem ist der Arbeitsaufwand für Subsidiaritätsprüfungen beträchtlich. Sollen diese ernsthaft, regelmäßig und unter dem Druck der knappen 8-Wochen-Frist durchgeführt werden, werden sie umfassende personelle, zeitliche und finanzielle Ressourcen binden. Parlamente werden hierzu auf juristischen Sachverstand in ihren Diensten oder auf externe Gutach- ter zurückgreifen müssen. Sie werden effiziente, interne Verfahren einrichten müssen, um aus der Masse an Gesetzesvorhaben die brisanten Fälle herauszufischen und einer umfassenden Prüfung unterziehen, an deren Ende es eventuell zu einer Stellungnahme kommt.

 

Hinzu kommt, dass der Einfluss der Stellungnahmen auf den Gesetzgebungsprozess begrenzt ist. Auch wenn die Hürde von einem Drittel aller Kammern erreicht wird, ist die Kommission rechtlich nicht verpflichtet auf die Bedenken der Parlamente einzugehen. Bereits im Rahmen der Barroso-Initiative hatte die Kommission die Parlamente dazu aufgerufen, mit ihr in einen regelmäßigen Dialog zu treten und zu Gesetzesentwürfen Stellung zu nehmen. Bisher gibt es keine Anzeichen dafür, dass Stellung- nahmen zu einer Überarbeitung der Entwürfe führten.

 

Im Vorfeld des Lissabonner Vertrages organisierten die Parlamente im Rahmen der COSAC Testläufe zur Anwendung der neuen, im PSV niedergelegten Kontrollverfahren. Ziel war es, in der „Trockenübung“ die neuen Mitwirkungsmöglichkeiten kennenzulernen und hieraus Umsetzungsop- tionen für die mitgliedstaatlichen Verfahren zu erarbeiten. Auf der Grundlage des jährlichen Arbeitsprogramms der Kommission verständig- ten sich die Parlamente auf Legislativvorhaben zur Durchführung von insgesamt acht Probeläufen. Die Parlamente sollten ihre Prüfverfahren innerhalb der Fristvorgaben des PSV durchführen und gegebenenfalls Subsidiaritätsrügen an die Kommission formulieren. Die Testläufe führten so zu einer ersten Sensibilisierung der nationalen Parlamente und hierbei insbesondere auch der Fachausschüsse für ihre neuen, durch den Lissa- bonner Vertrag eröffneten Handlungsmöglichkeiten. Darüber hinaus verhalf die Koordination der Testläufe über die COSAC zu einem „Teil- nahmewettbewerb“ unter den Parlamenten: Reichten anfänglich nur 17 Kammern ihre Berichte fristgerecht ein, beteiligten sich am letzten Testlauf vor Inkrafttreten des Lissabonner Vertrages insgesamt 36 von 40 Kammern. Auffällig ist aber die geringe Anzahl an Subsidiaritätsrügen; das Maximum lag 2009 bei drei, die sich entsprechend dem PSV auf fünf Stimmen addierten.

 

Seit dem Start der Barroso-Initiative geben einige Kammern vermehrt Stellungnahmen an die Kommission ab, allerdings beziehen sich diese oft mehr auf den Inhalt von Gesetzesentwürfen als auf Subsidiaritätsfragen. Sehr deutlich wurde in den Testläufen und den seither abgegebenen Stellungnahmen zudem, dass nationale Parlamente kaum eine einheitliche Wahrnehmung davon haben, ob ein Rechtsakt in Einklang mit dem Subsidiaritätsprinzip ist oder nicht. Dies liegt vor allem daran, dass Artikel 5 EUV vage verfasst ist und es bisher an einer darüber hinaus gehenden, umfassenden Definition des Prinzips durch den europäischen Gesetzgeber oder den EuGH mangelt. Ohne einheitliche Prüfmaßstäbe ist kaum zu erwarten, dass eine signifikante Zahl von Kammern den EU-Organen regelmäßig Subsidiaritätsrügen ausspricht und so eine Überprüfung von Gesetzesentwürfen bewirkt.

 

Langfristig ist zu erwarten, dass die Kammern nationaler Parlamente nur sehr selektiv umfassende Subsidiaritätsprüfungen durchführen und Rügen aussprechen werden: Das Verfahren ist mit einem hohen Arbeitsaufwand verbunden und verspricht kaum politische Profilierung. Zudem bietet es wenig Raum für inhaltliche Gestaltung und schreibt den Parlamenten die Rolle des Verhinderers und Blockierers zu. Andererseits werden sich Parlamentarier und Parlamentsverwaltungen  regelmäßiger und zu einem frühen Zeitpunkt mit EU-Verhandlungsprozessen auseinandersetzen müssen. In der Förderung dieser „Europäisierungsprozesse“ in den Parlamenten sehen manche Beobachter einen Wert der Subsidiaritätsprüfung an sich.

 

Schwer abzuschätzen ist, wie regelmäßig Parlamente Subsidiaritätsklagen vor dem EuGH anstreben werden. Alle Argumente gegen die Praxisrelevanz der Subsidiaritätsprüfung treffen auch auf die Klage zu: schwerfällige, ressourcenintensive Verfahren und die vielmehr blockierende als gestalterische Natur solcher Klagen. Es erscheint für Parlamente sinnvoller ihre Bedenken gegen EU-Vorhaben – seien sie politischer Natur oder rechtlich, subsidiaritätsbezogen – über ihre Regierungen in den europäischen Verhandlungsprozess einzuspeisen als hinterher gegen einen bereits erlassenen Rechtsakt zu klagen. Allerdings wurde in einigen Mitgliedstaaten das Klagerecht als Minderheitenrecht ausgestaltet. Dies eröffnet gerade für EU-skeptische Parteien die Möglichkeit sich über solche Klagen oder allein durch ihre bloße Androhung zu profilieren. Der Deutsche Bundestag muss beispielsweise auf Antrag eines Viertels seiner Mitglieder eine Klage vor dem EuGH anstreben. Eine positive „Nebenwirkung“ solcher Klagen wäre, das der EuGH das Subsidiaritätsprinzip klarer definieren und damit greifbarer machen müsste. Außerdem bergen Klagen und die damit einhergehenden Debatten das Potential, zur Europäisierung der Öffentlichkeit beitragen.

 

Besondere Rechte in der Innen- und Justizpolitik

 

Aufgewertet wird die Rolle der nationalen Parlamente insbesondere im sensiblen Bereich der Innen- und Justizpolitik.

 

Erstens ist die Hürde zur Überprüfung eines Gesetzesentwurfes im Rahmen der Subsidiaritätsprüfung geringer. Schon auf Grundlage eines Viertels der möglichen Stellungnahmen müssen die EU-Organe einen Entwurf überprüfen.

 

Zweitens sieht der Vertrag besondere Informationspflichten der Kommis- sion und des Rates gegenüber den Parlamenten vor. Nationale Parlamente müssen über die Bewertung der Durchführung der Maßnahmen in diesem Politikfeld unterrichtet werden (Art. 70 AEUV). Auch über die Arbeit des neu eingerichteten ständigen Ausschusses im Rat zur Verbesserung und Koordinierung der operativen Zusammenarbeit im Bereich der inneren Sicherheit („Cosi-Ausschuss“, Art. 71 AEUV) sollen sie auf dem Laufenden gehalten  werden.

 

Drittens werden den Parlamenten besondere Kontrollrechte übertragen. So sieht Art. 88 AEUV eine Beteiligung der nationalen Parlamente an der Kontrolle des Europäischen Polizeiamtes „Europol“ durch das EP vor. Zudem sollen die nationale Parlamente und das EP an der Bewertung der Tätigkeiten Eurojusts beteiligt werden (Art. 85 AEUV). In beiden Fällen soll eine von Rat und EP im Mitentscheidungsverfahren zu erlassende Verordnung diese Kontrollrechte näher konkretisieren. Von der Kommission wurden noch keine Gesetzentwürfe zum Umsetzung dieser Vorschriften vorgelegt.