Die Reformen des Vertrages von Lissabon

Die Europäische Kommision

 

Nicolai von Ondarza/Anne Schmidt (Juni 2012)

Die Europäische Kommission ist eines der Hauptorgane der Europäischen Union und sie nimmt im traditionellen Verständnis drei Kernaufgaben im politischen System der Union ein: Erstens als „Motor der Integration“, da Vorschläge für Rechtssetzung der Union nur von ihr kommen können. Zweitens überwacht sie als „Hüterin der Verträge“ die Umsetzung und Anwendung der EU-Entscheidungen in den Mitgliedstaaten und kann gegen diese nötigenfalls ein Vertragsverletzungsverfahren vor dem Europäischen Gerichtshof einleiten. In einer dritten Rolle als „Exekutive der Gemeinschaft“ ist sie neben dem Rat für die Durchführung von Rechtsakten auf EU-Ebene und die Ausführung des Haushalts zuständig. In allen drei Rollen ist die Kommission in den letzten Jahren durch andere Akteure auf EU-Ebene zunehmend unter Druck geraten, so dass sie in der öffentlichen Wahrnehmung deutlich an Bedeutung verloren hat.

 

 

Bei den Verhandlungen zum EU-Verfassungsvertrag und zum Vertrag von Lissabon wurden die drei grundsätzlichen Funktionen der Kommission nicht in Frage gestellt, sondern im Kern zwei Ziele verfolgt: Zum einen sollte die demokratische Legitimität der Kommission durch eine Wahl des Kommissionspräsidenten vom Europäischen Parlament gestärkt werden. Zum anderen sollte die Effizienz der Kommission erhöht werden, indem vom Prinzip‚ ein Kommissar pro Land’ Abstand genommen und so die Anzahl der Kommissare reduziert werden sollte. Diese Reform soll jedoch vor ihrem Inkrafttreten 2014 wieder rückgängig gemacht werden – ein Umsetzungsbeschluss steht hier noch aus. Nicht zuletzt ist die Kommiss on aber auch von anderen institutionellen Innovationen des Lissabonner Vertrags betroffen, die sich direkt auf ihre Arbeit auswirken werden: So fungiert die Hohe Vertreterin der Union für die Außen- und Sicherheitspolitik als Vize-Präsidentin der Kommission, die Subsidaritätskontrolle und die Europäische Bürgerinitiative beeinflussen ihr Initiativrecht und mit dem Präsidenten des Europäischen Rats gibt es einen weiteren institutionellen Akteur, mit dem sich die Kommission abstimmen muss.

 

 

In der Umsetzung der Lissabonner Vertragsreformen stellt sich für die Kommission demnach vor allem die Frage, wie sie sich im veränderten Institutionengefüge der Europäischen Union positioniert. Erste Entscheidungen wie die Grundsätze für das neue interinstitutionelle Abkommen zwischen Europäischem Parlament und Kommission oder die Verhandlungen über die Wirtschaftsstrategie der EU für 2020 deuteten schon 2010 darauf hin, dass sich der Bedeutungsverlust im Institutionendreieck gegenüber dem Euroäischen Parlament und den Mitgliedstaaten im Rat fortsetzt. Beim Management der europäischen Schuldenkrise hat die Kommission jedoch eine zwiespältige Rolle gespielt – zwar konnte sie kaum ihre Rolle als Motor der Integration ausspielen, da ein Großteil der Initiativen politisch aus dem Europäischen Rat bzw. den neuen Gipfeln der Staats- und Regierungschefs der Eurostaaten kamen. Bei der Umsetzung wie etwa der Zusammenarbeit mit Griechenland oder dem Europäischen Semester ebenso wie bei der Detailausarbeitung von Gesetzesinitiativen für die Umsetzung der politischen Leitlinien, hat die Kommission wichtige Funktionen übernommen.

 

Wahl und Zusammensetzung der Kommission – ein Mehr an Legitimation und Effizienz bei weiter fortschreitender Präsidentialisierung?

 

Mit dem Vertrag von Lissabon verband sich der Anspruch, die Arbeit der Kommission sowohl effizienter zu gestalten als auch stärker zu legitimieren: ersteres durch eine Verkleinerung der Kommission, zweiteres durch eine stärkere Anlehnung an das Europäische Parlament bei der Wahl des Kommissionspräsidenten. Erstmals „wählt“ das EP diesen mit der Mehrheit seiner Mitglieder und muss nicht mehr nur „zustimmen“. Artikel 17 Abs. 7 EUV verpflichtet den Europäischen Rat zudem, bei seinem mit qualifizierter Mehrheit beschlossenen Vorschlag an das EP für einen Kandidaten für das Amt des Kommissionspräsidenten das Ergebnis der Europawahl zu berücksichtigen. Wenngleich damit nicht automatisch eine Wahl mit europäischen Spitzenkandidaten stattfindet, soll die Person des Kommissi- onspräsidenten gleichwohl die parteipolitischen Mehrheitsverhältnisse im EP widerspiegeln. So wurde José Manuel Barroso bereits vor Inkrafttreten des Lissabon-Vertrags vom EP als Kommissionspräsident wiedergewählt, entstammt aber ebenso wie die größte Fraktion im EP der konservativen Parteienfamilie. Für die Europawahl 2014 wird indes in mehreren größeren Fraktionen diskutiert, ob sie für die kommenden Wahlen erstmals

bereits zur Wahl eine gemeinsame Kandidatin bzw. Kandidaten für das Amt des Kommissionspräsidenten nominieren wollen.

 

 

Auch bei der Investitur der Kommission zeigt sich erneut deren enge Anbindung an die Kontrollfunktion des EPs. Nach formaler Annahme der Kommissionsliste durch den Europäischen Rat stellen sich die Kandidaten inklusive des Kommissionspräsidenten und der Hohen Vertreterin für die Außen- und Sicherheitspolitik als Kollegium dem EP (Art. 17 Abs. 7 EUV). In Anhörungen vor den Fachausschüssen des EPs werden die designierten Kommissarinnen und Kommissare auf „ihre allgemeine Befähigung und ihren Einsatz für Europa“ (Art. 17 Abs. 3 EUV) sowie ihre Unabhängigkeit hin geprüft. Nach Zustimmung des Parlaments wird die Kommission formal vom Europäischen Rat mit qualifizierter Mehrheit ernannt. Dieses Verfahren wurde im Januar und Februar 2010 angewandt und erlaubt dem Parlament einen direkten Zugriff auf die Kommission. So konnte es 2010 erreichen, dass die bulgarische Kommissionsanwärterin, Rumiana Jeleva, angesichts von Zweifeln über ihre fachliche Eignung ihre Kandidatur zurückziehen musste. Erst anschließend hat das EP am 9. Februar 2010 das neue Kollegium akzeptiert, so dass die Kommission anschließend vom Europäischen Rat ernannt wurde.

 

 

Artikel 17 Abs. 8 EUV regelt weiterhin, dass die Kommission dem EP als Kollegium verantwortlich ist und durch ein Misstrauensvotum gemäß Art. 234 AEUV geschlossen abgewählt werden kann, wobei die Hohe Vertreterin in diesem Fall ihr Kommissionsmandat abgeben müsste. Mit der neu ausgehandelten Rahmenvereinbarung zwischen EP und Kommission hat das EP durchgesetzt, vom Kommissionspräsidenten sogar den Rücktritt eines Kommissionsmitglieds einfordern zu können. Der Kommissionspräsident muss dann prüfen, ob er von seinem neuen Recht nach Art. 17 Abs. 6 EUV Gebrauch macht und das betreffende Kommissionsmitglied entlässt oder andernfalls vor dem Plenum des EPs eine umfassende Erklärung gibt.

 

 

Der Vertrag von Lissabon gibt dem Kommissionspräsidenten eine noch größere Rolle und scheint damit den eingeschlagenen Weg der Präsidentialisierung der Kommission fortzuführen und zu verstärken. So verleiht Art. 17 Abs. 6 EUV dem Präsidenten eine Richtlinienkompetenz gegenüber den anderen Kommissaren, einschließlich der Hohen Vertreterin, und ermächtigt ihn zur Ernennung der Vizepräsidenten der Kommission. Er kann dabei neuerdings die Kommissare zum Rücktritt auffordern, wobei die Hohe Vertreterin in diesem Fall nur ihr Kommissionsmandat ablegen müsste. Mit dem seit Lissabon eingeführten Präsidenten des Europäischen Rates, in welchem er Mitglied bleibt, und der Hohen Vertreterin, arbeitet der Kommissionspräsident eng zusammen, bereitet die Sitzungen des Europäischen Rates mit vor und sorgt so für Kohärenz (Art. 15 Abs. 6b und 16 Abs. 6 EUV). In der Praxis findet so ein regelmäßiger Austausch zwischen den Präsidenten Van Rompuy und Barroso statt, die auch bei mehreren inhaltlichen Themen bereits abgestimmte Vorschläge in den Europäischen Rat eingebracht haben.

 

Die umstrittene Verkleinerung des Kollegiums

 

Um die Effizienz der Kommissionsarbeit zu verbessern und die trotz umfassenderer Aufgabenfelder der Kommission als unnütz angesehene Portfolio-Kreationen seitens des Kommissionspräsidenten zu beenden, sieht der Lissabon-Vertrag ab November 2014 eine Verkleinerung der Kommission vor. Bis dahin bleiben die jetzigen 25 Portfolios, exklusive Präsidenten und Hoher Vertreterin, bestehen und erfordern bei der Gefahr des Kompetenzgerangels einen hohen Koordinierungsbedarf. Dieser besteht insbesondere zwischen den Portfolios der Außenbeziehungen (s.u.), aber auch zwischen Klima (Hedegaard) und Umwelt (Potočnik), Justiz (Reding) und Inneres (Malmström) sowie den wirtschaftsrelevanten Dossiers (Barnier, Rehn, Almunia, Tajani und Šemeta; für einen Überblick über die Barroso-II-Kommission siehe Anhang). Gleichwohl erfahren einige Politikbereiche durch diese Aufteilung eine Aufwertung (z.B. die Humanitäre Hilfe).

 

 

Einschließlich Präsident und Hohem Vertreter sollte die Kommission eigentlich ab 2014 auf 2/3 ihrer Mitglieder schrumpfen (Art. 17 Abs. 5 EUV), was nach dem Beitritt Kroatiens einer Reduzierung von bald 28 auf 18 Kommissare entspräche. Dabei sollte ein vom Europäischen Rat einstimmig beschlossenes Rotationsprinzip die demographische und geographische Balance zwischen den Mitgliedstaaten sichern. Diese Regelung war jedoch eines der wichtigsten Argumente der Kritiker gegen den Vertrag von Lissabon bei der Ablehnung im ersten Referendum in Irland 2008. Hauptargument der Kritiker war, dass vor allem kleine Mitgliedsländer durch die Regelung ab 2014 an Einfluss in der Kommission und der EU als Ganzes verlieren würden. Für das zweite Referendum 2009 stand der Europäische Rat Irland daher unter anderem zu, die Verkleinerung der Kommission vor 2014 wieder durch einen einstimmigen Beschluss zurückzunehmen.

 

 

Diese politische Zusicherung muss rechtlich aber noch vollzogen werden. Hierzu ist gemäß Art. 17 (5) EUV ein einstimmiger Beschluss des Europäischen Rates notwendig. Bislang ist dieser rechtsgültige Beschluss aber ausgeblieben, obwohl der Europäische Rat sich politisch eindeutig auf ein Beibehalten der Ein-Kommissar-pro-Mitgliedstaat-Regel verpflichtet hat. Es bleibt abzuwarten, ob der Beschluss vor den Europawahlen 2014 noch verspätet ohne größere Debatte eingeführt wird, oder ob die Befürworter einer Verkleinerung der Kommission in einer bald 28 Mitgliedstaaten umfassenden Union die Umsetzung blockieren und erneut über die Zusammensetzung der Kommission verhandelt werden muss.

 

Das Initiativmonopol der Kommission unter Druck

 

Neben der Zusammensetzung werden die Aufgaben und Befugnisse der Kommission in der Vorbereitung, der Beschlussfassung, der Durchführung und der Kontrolle von EU-Entscheidungen durch die Lissabonner Vertragsreformen verändert oder beeinflusst. Hinsichtlich der Entscheidungsvorbereitung ist zunächst festzuhalten, dass das Initiativmonopol der Kommission in der EU-Rechtssetzung erhalten bleibt, insbesondere im neu benannten ordentlichen Gesetzgebungsverfahren (Art. 294 AEUV), vormals Mitentscheidungsverfahren. Im Konvent zum Verfassungsvertrag war zwar diskutiert worden, dem Europäischen Parlament und dem Rat ein Initiativrecht zuzusprechen; diese Überlegungen setzten sich aber mit Verweis auf die Erhaltung der Kommission als „Motor der Integration“ nicht durch. Dennoch ist sie in ihrem Vorschlagsrecht in Zukunft in dreifacher Hinsicht politisch eingeschränkt:

 

 

Erstens bleiben trotz der Aufhebung der Saäulenstruktur der Union Ausnahmen im Initiativmonopol bestehen. So liegt das Vorschlagsrecht im Bereich der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik (GASP, ehemals zweite Säule) weiterhin außerhalb ihrer Kompetenzen (Art. 24 EUV), da Beschlüsse hier auf Initiative der Mitgliedstaaten oder – dies ist neu – der Hohen Vertreterin getroffen werden (Art. 30 EUV). Auf Grund der Sonder- rolle der Hohen Vertreterin kann diese jedoch eine Initiative in der GASP zusammen mit einer Initiative der Kommission in einem anderen Bereich der auswärtigen Beziehungen (z.B. Humanitäre Hilfe) bündeln (siehe unten). Anderseits wurde der Sonderstatus der Polizeilichen und Justiziellen Zusammenarbeit in Strafsachen (ehemals dritte Säule) aufge- hoben, so dass hier nun nach dem ordentlichen Gesetzgebungsverfahren nach Initiative der Kommission von Parlament und Rat entschieden wird (Art. 82-89 AEUV). Anders als in anderen EU-Politikbereichen können Initiativen aber zusätzlich von einem Viertel der Mitgliedstaaten vorgebracht werden (Art. 76 AEUV). Im Vertrag von Nizza war dies noch einzelnen Mitgliedstaaten möglich. In der Praxis kamen zwar nach Inkrafttreten des Vertrags weiterhin politisch Initiativen seitens der Mitgliedstaaten, formell werden die Vorlagen aber nunmehr nahezu ausnahmslos von der Kommission – nach Rücksprache mit den Mitgliedstaaten – eingebracht.

 

 

Eine zweite und für das Institutionengefüge der EU potenziell bedeutsamere Entwicklung sind Akteure innerhalb des EU-Systems, welche zwar rechtlich nicht über ein Vorschlagsrecht verfügen, die Kommission in Zukunft aber politisch zu solchen verpflichten können. Dies ist vor allem der als EU-Organ aufgewertete Europäische Rat, dessen nun ständiger Präsident mit dem ersten Amtstraäger Herman van Rompuy die Rolle des Gremiums der Staats- und Regierungschefs als Impulsgeber und Agendasetzer weiter gestärkt hat. Gerade in der Schuldenkrise und den Reformen im wirtschaftspolitischen Bereich hat sich der Europäische Rat – bzw. die neu gegründeten Eurogipfel, denen Van Rompuy ebenfalls vorsteht – als entscheidendes Forum für politische Großthemen etabliert. Die Kommission ist dabei weitgehend auf die Rolle eines Dienstleisters, der die politischen Entscheidungen der Staats- und Regierungschefs in konkrete Formen gießt, reduziert worden.

 

 

Ebenfalls Anspruch auf das Recht für politische Initiativen erhebt das Europäische Parlament. Der Vertrag sieht hier gemäß Art. 225 AEUV vor, dass das Parlament die Kommission zwar zu einem Vorschlag auffordern kann. Es obliegt aber der Kommission, ob sie dann von ihrem Initiativrecht Gebrauch macht. Neu ist an dieser Stelle, dass sie ihr Vorgehen im Falle einer Ablehnung begründen muss. In der Umsetzung der Vertragsrefor-

men sind die Möglichkeiten des Parlaments noch weiter ausgebaut worden. In den Rahmenvereinbarungsverhandlungen vor der Wahl der neuen Kommission setzte das EP durch, dass diese sich verpflichtet, innerhalb von drei Monaten auf eine Aufforderung des Parlaments zu antworten und innerhalb eines Jahres mit einem Gesetzesvorschlag oder einer Aufnahme in das Arbeitsprogramm zu reagieren. Erfolgt dies nicht, muss die Kommission dem Parlament eine detaillierte Begründung vorlegen. Mit diesen engen zeitlichen Vorgaben verfügt das EP zwar noch nicht über ein eigenes Initiativrecht, kann die Kommission aber politisch erheblich unter Druck setzen.

 

 

Nicht zuletzt weist der Vertrag von Lissabon den europäischen Bürgern ein formales Recht zu, die Kommission zu einem Vorschlag aufzufordern – die europäische Bürgerinitiative (Art. 11 Abs. 4 EUV, Art. 24 AEUV). Gemäß dieser institutionellen Neuerung können mindestens eine Million Unionsbürger, die aus „einer erheblichen Anzahl von Mitgliedstaaten“ (Art. 11 Abs. 4 EUV) stammen muss, die Kommission auffordern, im Rahmen ihrer Befugnisse ein Gesetzgebungsverfahren einzuleiten. Die genauen Modali- täten des Verfahrens wurden in einem Umsetzungsbeschluss nach dem ordentlichen Gesetzgebungsverfahren getroffen (Art. 24 AEUV, siehe Beitrag in diesem Band). Nach Inkrafttreten des Beschlusses sind die ersten Bürgerinitiativen im Frühjahr 2012 auf den Weg gebracht worden, aber bis dato (Stand: Juni 2012) hat noch keine die erforderlichen eine Million Stimmen gesammelt. Es bleibt daher abzuwarten, wie die Kommission auf die ersten erfolgreichen Initiativen eingehen wird.

 

 

Neben diesen Akteuren, welche die Kommission politisch zu einem Vorschlag auffordern können, bilden die neuen Befugnisse der nationalen Parlamente einen dritten beschränkenden Faktor für ihr Initiativmonopol. Relevant ist in diesem Zusammenhang, dass sie nicht nur wie bisher über alle Rechtssetzungsinitiativen direkt von der Kommission unterrichtet werden müssen, sondern dass sie gemäß Art. 12 EUV auch für die Einhaltung des Grundsatzes der Subsidiarität Sorge tragen. Falls mehr als ein Drittel der nationalen Parlamente feststellen, dass eine Initiative das Subsidiaritätsprinzip verletzt, so muss die Kommission diese überprüfen. Diese Überprüfung muss nicht notwendigerweise in einer Änderung münden; sollte die Kommission aber an dem ursprünglichen Vorschlag festhalten, so ist dies zu begründen. Ähnlich wie beim Aufforderungsrecht des EPs bieten die Vertragsreformen den nationalen Parlamenten ein formelles Recht, um politischen Druck auf die Kommission auszuüben.

 

 

Zusammengenommen ergibt sich hinsichtlich der Rolle als „Motor der Integration“ ein gemischtes Bild für die Kommission nach dem Vertrag von Lissabon. Zum einen ist ihr Initiativmonopol rechtlich sogar gestärkt worden und die neuen ‚demokratischen Aufforderungsrechte’ des Europäischen Parlaments und der Unionsbürger könnte sie nutzen, um eigene Initiativen mit demokratischer Legitimität zu untermauern. Auf der anderen Seite stellt der weitere Zuwachs an politischem Leitungsanspruch des Europäischen Rats ihre Motorfunktion in europäischen Großprojekten in Frage, während mit der Subsidaritätskontrolle neue politische Vetopunkte eingeführt wurden.

 

Die Exekutiv- und Kontrollbefugnisse der Kommission

 

Eine wichtige Differenzierung hat der Vertrag von Lissabon im Bereich der Umsetzungsakte des Unionsrechts vorgenommen, wobei sich auch die Handlungsmöglichkeiten der Kommission erheblich verändert haben. So eröffnet er zum einen die Möglichkeit, dass der Kommission vom Gesetzgeber (Parlament und Rat) die Befugnis zum Erlass von „delegierten Rechtsakten“ ohne Gesetzescharakter übertragen werden kann, um einen betreffenden Gesetzgebungsakt in nicht wesentlichen Punkten zu ergänzen (Art. 290 AEUV). Dies betrifft demnach Umsetzungsakte, die der EU- Gesetzgeber auch selbst erlassen könnte. Für die Übertragung der Umsetzungsbefugnis ist die Autorisierung durch Parlament und Rat in jedem Einzelfall notwendig. Die Gesetzgebungsorgane müssen also die Ausübung dieser Befugnisse durch die Kommission genau definieren, wobei sie die Kommission kontrollieren und die delegierten Befugnisse jederzeit widerrufen können. Nach schwierigen Verhandlungen konnten sich Parlament und Kommission 2011 zudem auf ein einheitliches Verfahren bei delegierten Rechtsakten einigen. Hierbei hat die Kommission zugesichert, bei ihren Beratungen mit den mitgliedstaatlichen Sachverständigen zur Ausübung ihrer Befugnisse im Bereich delegierter Rechtsakte auch Vertreter des Parlaments einzuladen. Die endgültigen Beschlüsse zum Erlass delegierter Rechtsakte werden in jedem Fall aber von der Kommission gefällt. Ein delegierter Rechtsakt tritt erst dann in Kraft, wenn weder das Parlament noch der Rat innerhalb der jeweils im Gesetzgebungsakt festgelegten Frist (in der Regel zwei Monate) Einspruch erhoben haben.

 

 

Die Befugnis für die Durchführung von Rechtsakten lässt der Vertrag bei den Mitgliedstaaten (Art. 291 AEUV). Sind jedoch einheitliche Bedingungen für die Durchführung der Gesetzgebungsakte erforderlich, so werden in diesen Akten der Kommission (in begründeten Ausnahmefällen sowie im Bereich der GASP dem Rat) Durchführungsbefugnisse übertragen. Zur Verregelung dieser Befugnisübertragung an die Kommission verabschiedeten Parlament und Rat nach langen Verhandlungen im Dezember 2010 eine Verordnung zu Art. 291 AEUV. Demnach wurde das ehemalige „Komitologieverfahren“ auf zwei Verfahrenstypen reduziert, in denen jeweils Vertreter der Mitgliedstaaten die Kommission bei ihren Durchführungsbeschlüssen beraten (Beratungsverfahren) bzw. mit Vetorecht kontrollieren können (Prüfverfahren )

 

 

Bemerkenswerte Auswirkungen haben die Veränderungen im Institutionengefüge der EU auch auf die Rolle der Kommission als Hüterin der Verträge. So verfügt sie nun auch im Bereich der Polizeilichen und Justiziellen Zusammenarbeit in Strafsachen über die Instrumente des Vertragsverletzungsverfahren und der Nichtigkeitsklage, falls die Mitglied- staaten EU-Entscheidungen nicht umsetzen. Gestärkt wird sie ebenfalls gegenüber dem Europäischen Rat, der – nun als formelles Organ der EU – gemäß Art. 263 und 265 AEUV Objekt von Nichtigkeitsklagen oder Untätigkeitsklagen sein und damit nun von der Kommission verklagt werden kann. In Zukunft kann die Kommission also bei Beschlüssen des Europäischen Rates mit Rechtswirkung gegenüber Dritten auf Grund von Unzuständigkeit, Verletzung wesentlicher Formvorschriften, Verletzung des Vertrages oder einer bei seiner Durchführung anzuwendenden Rechtsnorm und Ermessensmissbrauch (Art. 263 Abs. 2 AEUV) vor dem EuGH klagen.

 

Die Kommission in den auswärtigen Beziehungen – eigener Spieler zwischen Hohem Vertreter, den Mitgliedstaaten und dem Präsidenten des Europäischen Rates?

 

In den auswärtigen Beziehungen soll die Kommission eng mit dem Rat und dem Hohen Vertreter zusammenarbeiten, um die „Kohärenz zwischen den einzelnen Bereichen ihres [unionalen] auswärtigen Handelns sowie zwischen diesen und ihren übrigen Politikbereichen“ zu gewährleisten (Art. 21 Abs. 3 EUV). Dazu kann sie dem Europäischen Rat zusammen mit der Hohen Vertreterin Vorschläge machen, allerdings nur für den Bereich des auswärtigen Handelns, während die Hohe Vertreterin den Bereich der GASP abdeckt (Art. 22 Abs. 2 EUV).

 

 

Kernaufgaben der Kommission bleiben daher die ehemaligen EG- Außenbeziehungen, welche sich weiterhin auf mehrere Kommissare verteilen, aber von der Hohen Vertreterin Catherine Ashton in der Arbeitsgruppe „Außenbeziehungen“ koordiniert werden (Handel, Entwicklung, Humanitäre Hilfe, Erweiterung und Europäische Nachbarschaftspolitik). Wichtig für die Kohärenz im auswärtigen Handeln der Kommission und der EU insgesamt bleibt daher die Koordinierung zwischen den verschiedenen Kommissaren, ihren Kabinetten und Generaldirektionen. In der GASP ist weiterhin der Rat bzw. der Europäische Rat dominant.

 

 

Eine besondere Stellung im neuen Institutionengefüge und insbesondere in den Außenbeziehungen nimmt also die Hohe Vertreterin der Union für die Außen- und Sicherheitspolitik ein. Im Verfassungsvertrag noch als ‚euroäischer Außenminister‘ deklariert, wird sie nach Art. 18 EUV vom Europäischen Rat mit Zustimmung des Kommissionspräsidenten ernannt und kann auch von diesem wieder abgesetzt werden. Die Hohe Vertreterin handelt „im Auftrag des Rates“ (Art. 18 Abs. 2 EUV) und sitzt dem Rat für Auswärtige Angelegenheiten vor . Erst im vierten Absatz wird ihre Doppelhut-Rolle als Vizepräsidentin der Kommission genannt, in welcher sie Kommissionsregeln unterworfen und für die Kohärenz des auswärtigen Handelns der EU koordinierend zuständig ist. „Bei der Erfüllung seines Auftrags stützt sich der Hohe Vertreter auf einen Europäischen Auswärtigen Dienst.“ (Art. 27 Abs. 3 EUV). Nach langen Verhandlungen einigten sich Parlament, Rat, Kommission und Hohe Vertreterin bis zum Sommer 2010 auf die Strukturen des EAD, der somit zum Jahreswechsel 2011 seine Arbeit aufnehmen konnte. Dafür wurden auch große Teile der früheren Generaldirektion Auswärtige Angelegenheiten sowie die Kommissionsdelegation in den EAD transferiert. Eine Herausforderung ist die herausgehobene Stellung der Hohen Vertreterin für das Kollegialprinzip der Kommission, welches die prinzipielle Gleichheit der Kommissare bei der Willensbildungs- und Entscheidungsfindung widerspiegelt. Gleichwohl zeigt bereits das oben aufgezeigte Präsidialprinzip, dass der Kommissionspräsident „primus inter pares“ bleibt und das Kollegialprinzip schwächt. Die Hohe Vertreterin stärkt nun mit ihrer Sonderstellung das dritte Prinzip innerhalb der Kommission, das Ressortprinzip. Dies zeigt sich bei ihrem Initiativrecht im Bereich der GASP, in welcher wiederum dem Kommissionspraäsidenten die Hände gebunden sind und damit die Grenzen seiner Kontrolle und politischen Führung innerhalb der Kommission deutlich werden. Die Hohe Vertreterin ist dabei sowohl dem Rat als auch der Kommission verantwortlich, wobei interessanterweise vermerkt werden muss, dass der Lissabon-Vertrag nicht ohne Widerspruch davon spricht, dass die Hohe Vertreterin in ihrer Rolle als Vizepräsidentin der Kommission den Kommissionsregeln unterliegt, insofern dies mit ihren Ratsaufgaben vereinbar ist (Art. 18 Abs. 2 bis 4 EUV).

 

Auf jeden Fall hat die Kommission bereits ihre internen Regeln für Kommissarspersonal für sie angepasst und ihr mehr personelle Unterstützung zugestanden. Die enge Anbindung der Hohen Vertreterin an die Kommission hat jedoch in der Praxis nur bedingt zu Synergieeffekten geführt. So ist die Hohe Vertreterin durch ihren verschiedenen ‚Hüten‘ derart ausgelastet, dass sie ihre Kommissionsfunktionen nur sehr begrenzt ausüben kann. Zum anderen sind die Mitgliedstaaten in der GASP/GSVP die bestimmen- den Akteure geblieben, die auch die zentralen Initiativen eingebracht haben. Mehr tatsächliche Zusammenarbeit gab es daher eher in Bereichen, die den wirtschaftlichen Außenbeziehungen zuzurechnen sind, also etwa in der humanitären Hilfe.

 

Beispielhaft für die spannungsgeladene Arbeitsteilung zwischen Mitgliedstaaten, Kommission und Hoher Vertreterin in den Außenbeziehungen ist die Europäische Nachbarschaftspolitik (ENP). Vor Ernennung von Catherine Ashton als Hohe Vertreterin hat Kommissionspräsident Barroso die ENP aus dem Aufgabenportfolio der Außenbeziehungen ausgegliedert und dem Erweiterungskommissar (aktuell Stefan Füle) zugeordnet. Obgleich er damit die Mitgliedstaaten und vor allem die Hohe Vertreterin brüskiert hat, bleibt diese Zuteilung im EAD-Beschluss bestehen, der auch die Verantwortlichkeit für die ENP auf Kommission und EAD verteilt hat. In der Praxis müssen sich EAD und die entsprechenden Kommissionsabteilungen so eng koordinieren und es droht erhebliches Spannungspotential. Gerade bei der Neuausrichtung der ENP als Reaktion auf die Umbrüche im arabischen Raum aber hat die Zusammenarbeit zwischen den entsprechenden Behörden sowie Füle und Ashton sehr gut funktioniert.

 

Ausblick

 

Mit der angekündigten Zurücknahme der Verkleinerung der Kommission ab 2014 soll die größte direkt die Kommission betreffende Reform des Lissabonner Vertrags in seiner Umsetzung wieder aufgehoben werden. Für den dafür notwendigen Umsetzungsbeschluss steht aber spätestens 2013 eine neue Debatte über die Zusammensetzung der Kommission ins Haus. Darüber hinaus wird sich die Wirkungsmacht der ‚Wahl’ der Kommissi- onspräsidenten durch das EP erst dann zeigen, wenn es von den europäischen Parteien im Wahlkampf von 2014 umgesetzt wird.

 

Die weitreichendsten Veränderungen für die Stellung der Kommission im politischen System der EU im Zuge der Lissabonner Reformen ergaben sich damit vor allem im Zusammenspiel mit anderen institutionellen Reformen – der Aufwertung des Europäischen Rates als Unionsorgan mit einem ständigen Präsidenten, der Stärkung des Parlaments, der Bürgerini- tiative und der Subsidaritätskontrolle durch die nationalen Parlamente sowie der Neuordnung der EU-Außenbeziehungen mit der Doppelhut- Konstruktion der Hohen Vertreterin und der Schaffung des Europäischen Auswärtigen Dienstes.

 

Nach der ersten Umsetzung der Vertragsreformen scheinen zwei unterschiedliche Lesarten für die zukünftige Stellung der Kommission im politischen System der EU möglich. Auf der einen Seite scheint sich eine schrittweise Schwächung gegenüber den anderen EU-Organen zu bestätigen. Druck kommt hier zum einen vom Europäischen Parlament, welches seinen neuen Gestaltungsanspruch schon bei der Investitur der Kommission durch das neue Rahmenabkommen klar bestätigt hat. Bei laufenden Gesetzgebungsverfahren finden die Verhandlungen außerdem zunehmend direkt zwischen Parlament und Rat statt, so dass die Kommission hier formal an Bedeutung einbüßt. Vor allem aber hat sich die politische Dynamik seit Ausbruch der europäischen Schuldenkrise fast vollständig auf den Europäischen Rat verlagert, dessen Präsident Van Rompuy in seiner Rolle als Makler und Kompromissbereiter durchaus eigene Akzente zusetzen wusste. Die Kommission wurde dabei vermehrt von den Staats- und Regierungschefs ‚beauftragt‘, ihre politischen Leitlinien formell umzusetzen.

 

Anderseits bleibt die Kommission als Impulsgeber für die gesamte Bandbreite europäischer Politikbereiche unverzichtbar und hat diese Aufgabe verstärkt auch in der früheren dritten Säule wahrgenommen. Des Weiteren ist sie in ihrem Exekutivfunktionen durch die neuen Handlungsspielräume bei delegierten Rechtsakten gestärkt worden, während sie nun auch über ein Klagerecht in der gesamten Innen- und Justizpolitik sowie gegenüber dem Europäischen Rat verfügt. Nicht zuletzt haben ihre Aufgaben in der Bewältigung der Schuldenkrise ihre Bedeutung als Entwickler von Gesetzesvorlagen und Exekutivorgan bestätigt. Als Teil der Troika gegenüber Schuldenstaaten, beim Europäischen Semester und bei Aushandlung von Gesetzesvorlagen wie dem ‚six pack‘ zur Reform des Stabilitäts- und Wachstumspakt bleibt die Kommission für das Funktionieren der Union zentrales Schaltorgan.